Die Hilfsorganisation Medico spricht von katastrophalen humanitären Zuständen und wirft der Bundesregierung vor, die Verantwortung für ihre Staatsbürger nicht wahrzunehmen. Vertreter von Grünen und FDP fordern von Seehofer mehr Engagement.

Berlin - Die grüne Innenpolitikerin Irene Mihalic hat die Bundesregierung mit Nachdruck aufgefordert, deutsche Kinder von IS-Anhängerinnen schnell aus den Gefangenenlagern in Nordsyrien zurückzuholen. „Jeder weitere Tag, an dem gerade die Kinder in diesen Lagern sind, ist ein verlorener Tag, mit Blick auf die Gesundheit, aber auch auf Traumata und Radikalisierungsprozesse“, sagte die Bundestagsabgeordnete unserer Zeitung. Die Situation in Lagern wie dem nordsyrischen Al Hol sei nach allen vorliegenden Informationen katastrophal, sagte die innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Aus humanitären Gründen müsste schnell ein Weg gefunden werden, vor allem die Kinder nach Deutschland zu holen.

 

Mihalic war der Bundesregierung eine „unverständliche Passivität“ vor. „Ich habe immer wieder bei der Bundesregierung nachgefragt, aber mir ist bis heute keine Strategie bekannt, wie man eine geordnete Rückkehr der deutschen Staatsbürger aus dem IS organisieren will.“ Der baden-württembergische FDP-Innenexperte Benjamin Strasser kritisierte die Bundesregierung in dieser Frage als „wenig ambitioniert“ und forderte, deutschen Kindern die Rückkehr zu ermöglichen. „So wie wir wollen, dass die deutschen Straftäter in einem rechtsstaatlichen Verfahren vor deutschen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden, so müssen wir auch den deutschen Kindern eine Rückkehr ermöglichen“, so Strasser. Er sprach sich dafür aus, zu prüfen, ob der Staat im Zweifelfall die Kinder aus den Familien nehmen müsse.

„IS kann sich leichter reorganisieren“

Auch eine Vertreterin der Organisation Medico International warf der Bundesregierung vor, die Verantwortung für ihre Staatsbürger nicht wahrzunehmen. Die Expertin für die Region, Anita Starosta, sagte unserer Zeitung, dies sei auf mehreren Ebenen dramatisch - „einerseits, weil es bedeutet, dass diejenigen, die gegen den IS gekämpft haben, nun mit dem Problem im Stich gelassen werden. Andererseits aber auch, weil die Lage dazu beiträgt, dass der IS sich womöglich leichter reorganisieren kann.“

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), sagte dazu, auch wenn eine konsularische Betreuung nach Schließung der Botschaft in Damaskus nicht möglich sei, prüfe die Bundesregierung Optionen, um vor allem Kindern eine Rückführung zu ermöglichen. Erst am Wochenende hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) darauf verwiesen, dass vor einer Rückholung jeder Einzelfall auf die Staatsangehörigkeit und den Ermittlungsstand geprüft werden müsse.

200 Kinder starben bereits

Internationale Hilfsorganisationen und die UN berichten von furchtbaren Zuständen vor allem im Camp Al Hol. Es fehle an allem, sagte Starosta. Derzeit lebten 74 000 Menschen – davon zwei Drittel Kinder und Jugendliche – in dem völlig überfüllten Camp. 11 000 davon kommen aus unterschiedlichsten Nationen, auch aus Deutschland. Die Hilfsorganisationen seien überfordert. Starosta bezeichnete die humanitäre Situation als sehr prekär. „In den ersten Wochen sind mehr als 200 kleine Kinder gestorben, die schon durch die schlechte Nahrungsmittelversorgung und Unterkühlung auf der Flucht so geschwächt waren, dass jede Hilfe zu spät kam“, sagte sie. Wöchentlich würden zwischen 20 und 30 Kinder in dem Lager geboren. „Wir haben viele Kinder und Frauen gesehen, die verletzt waren und nicht adäquat behandelt werden können“.

Starosta verwies auch auf die angespannte politische Situation und eine drohende weitere Radikalisierung der IS-Anhängerinnen – vor allem in der Sektion des Lagers mit unterschiedlichen Nationen. Die Frauen dort hätten sich einst freiwillig dem IS angeschlossen und seien radikalisiert, zum Teil auch Täterinnen gewesen. „Es ist klar, dass hier die Hierarchien, die unter dem IS bestanden haben, zum Teil fortbestehen.“ Es gebe Frauen, die das nächste Kalifat aufbauen wollten, und es gebe Frauen, die ernsthaft bereuten, was sie gemacht hätten. Spannungen seien die Folge. Die Radikalisierung wirke auch auf die Kinder. „Sie haben angefangen, unter dem IS zu leben und sind davon geprägt.“ Es gebe außer einer kleinen Schule weder ein pädagogisches noch ein therapeutisches Angebot, und so für die Kinder kaum eine Möglichkeit, langsam in ein normaleres Leben zurückzukehren.