Früher gab der Kapitän der Nationalmannschaft den Ton an und die Richtung vor – und alle folgten ihm. Manuel Neuer versteht sein Amt anders. Der neue Chef redet gern von einer flachen Hierarchie. Eine klare Hackordnung ist dennoch unerlässlich.

Stuttgart - Wie er sich einen Kapitän moderner Prägung vorstellt, hat Bastian Schweinsteiger erst kürzlich wieder erzählt. Vor seinem Abschiedsspiel am vergangenen Mittwoch erinnerte der scheidende Chef der Nationalmannschaft an den Moment kurz vor dem WM-Finale 2014, als Sami Khedira wegen einer Verletzung ausfiel. Der junge Christoph Kramer rückte auf den freien Platz, nicht zuletzt aufgrund seiner überzeugenden Leistungen im Training.

 

Dennoch könnte es nicht schaden, noch einmal die Sinne des unerfahrenen Kollegen zu schärfen, dachte sich Schweinsteiger vor dem Anpfiff. Als die Mannschaft im Kabinengang des Maracanã-Stadions Aufstellung nahm, packte Schweinsteiger deshalb Kramer mit beiden Händen am Kopf und beschwor ihn: „Spiel einfach so, wie du trainiert hast, dann wird das schon.“ 120 Minuten später war Deutschland Weltmeister – am Ende zwar nicht mit Kramer, der mit einer Gehirnerschütterung früh ausgeschieden war, doch solange er am Ball gewesen war, hatte auch er seinen Anteil am Triumph.

Einer für alle – nur so geht es. Thomas Müller musste in diese Rolle erst hineinwachsen – wie wohl jeder. Als er bei der WM 2010 sein erstes Turnier spielte, „war ich damit beschäftigt, dass ich meinen eigenen Tagesablauf hinbekomme. Jetzt schaue ich, dass die anderen ihren Tagesablauf auch gut hinbekommen.“ Im Sinne der Mannschaft und für deren Erfolg. So wie Schweinsteiger im Umgang mit Kramer. Oder wie Manuel Neuer, der im WM-Qualifikationsspiel gegen Norwegen an diesem Sonntag (20.45 Uhr/RTL) in Oslo die Binde zum 14. Mal, aber erstmals als offizieller Kapitän tragen wird. „Wir haben bisher schon die Aufgaben im Verbund gelöst, so wird es bleiben“, sagt er.

Flache Hierarchie bedeutet Verantwortung auf mehreren Schultern

Immer wieder betonen die Nationalspieler stolz die flache Hierarchie im Team. „Bei uns stehen elf Kapitäne auf dem Platz“, sagt auch Bundestrainer Joachim Löw. Das ist missverständlich.

Es ist ja nicht so, dass elf Mann wild durcheinanderdiskutieren und sich am Ende der lauteste durchsetzt. Was Löw vielmehr meint: Die Verantwortung ist auf mehrere Schultern verteilt, jeder soll sich einbringen. „Der Kapitän steht heutzutage nicht mehr über allem“, sagt Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff.

Dennoch funktioniert eine Mannschaft nur mit einer klaren Hierarchie. Die bildet sich über Leistung, Erfahrung und soziales Verhalten – alles zusammen macht den Stellenwert eines Spielers in der Gruppe aus.

So gesehen ist Löws Wahl von Manuel Neuer zum neuen Kapitän nur folgerichtig. Als Weltmeister und Welttorhüter trägt er gern Verantwortung. Er hat ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner Vorderleute und weiß, welches Leistungsklima in einer Mannschaft herrschen muss, um Erfolg zu haben. Das versucht er in Gesprächen mit den Spielern und Trainern zu steuern, aber auch mit den Physiotherapeuten, die Kümmernisse häufig als Erste erfahren, weil die Massagebank häufig die Couch des Psychologen ersetzt.

Als Gleichgesinnte stehen ihm die fünf anderen Mitglieder des Mannschaftsrats zur Seite. Jérôme Boateng, Sami Khedira, Mats Hummels und Toni Kroos, der jüngst aufgerückt ist, überzeugen vorneweg mit Leistung und Verantwortungsbewusstsein – ebenso wie Thomas Müller, auch wenn der Münchner deutlich forscher und kommunikativer auftritt. Joachim Löw weiß die unterschiedlichen Charaktere zu schätzen, er bindet das Spielergremium bis zu einem gewissen Grad auch in seine Trainingsplanung und Taktik ein. Bewusst gluckt der Rat der Mächtigen in Trainingslagern und bei Turnieren nicht dauernd eng zusammen. Beim Abendessen setzt sich der eine oder andere Ältere schon mal zu den jungen Spielern hin, bindet sie ein und schafft auf diese Weise Vertrauen und Zusammenhalt. Niklas Süle, der bei Schweinsteigers Abschied sein Debüt im Nationaltrikot feierte, hatte schon als Bub „die Nummer 7 im linken Mittelfeld mit gefärbten Haaren“ im Fernsehen bewundert. So, wie Schweinsteiger kickte und in Interviews redete, hatte sich Süle ein Bild von ihm gemacht. Das sich im persönlichen Umgang rund um die Partie gegen Finnland prompt bestätigte. „So, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, so habe ich ihn in den drei Tagen auch kennengelernt“, sagte Süle am Mittwoch.

Neuer geht auf Distanz zum „Capitano“ Michael Ballack

„Unsere Führungsspieler haben Spaß daran, eine Mannschaft weiterzuentwickeln und zu gestalten“, sagt Bierhoff. Zu Zeiten der sogenannten Alphatiere wie Stefan Effenberg, Oliver Kahn, Michael Ballack und Torsten Frings war das noch anders. Sie traten meist wortgewaltig auf und stellten Mitspieler schon mal in den Senkel. Als Ballack vor der EM in Frankreich der Mannschaft vorhielt, ihr mangele es an Führungsspielern, entlockte das Joachim Löw, der ihn 2010 als „Capitano“ entmachtet hatte, nur „ein Lächeln“. Warum, machte Manuel Neuer deutlich: „Ich kann nur sagen, dass wir charakterstarke Spieler im Team haben. Es gibt auch eine Hierarchie, auch wenn die vielleicht etwas anders funktioniert als zu Ballacks Zeiten.“

Es ist, was Erfolge, Stimmung und Ansehen der Mannschaft betrifft, nicht zu ihrem Schaden.