Nach dem Nein des britischen Parlaments zu Theresa Mays Austrittsvertrag macht sich die Wirtschaft auf das Schlimmste gefasst. Ein Überblick über die Krisenszenarien für verschiedene Wirtschaftsbereiche in Deutschland.

Frankfurt/Main - Ein ungeregelter Brexit am 29. März könnte Staus an den Grenzen, Liefer- und Produktionsausfälle bis hin zu Engpässen bei der Arzneimittelversorgung bewirken. Der Bundesverband für Groß- und Außenhandel sieht ein bilaterales Handelsvolumen von über 175 Milliarden Euro an deutschen Ein- und Ausfuhren von und nach Großbritannien in Gefahr. Allerdings laufen hinter den Kulissen Vorbereitungen, um ein komplettes Chaos zu verhindern. Ein Überblick über die Krisenszenarien für verschiedene Wirtschaftsbereiche in Deutschland.

 

Konsequenzen für den Südwesten

„Unkalkulierbare Folgen“ befürchtet der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeber Baden-Württemberg, Peer-Michael Dick. Großbritannien sei immerhin der sechstgrößte Absatzmarkt für baden-württembergische Unternehmen. Sie würden im Falle eines No-Deal-Brexits mit Zöllen und erheblicher Zollbürokratie belastet, die zu Verzögerungen an den Häfen führen. Die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) nannte die Unsicherheit „Gift für die Handelsbeziehungen zwischen Baden-Württemberg und dem Vereinigten Königreich“. Sie plädierte für eine „technische Verlängerung des Austrittsprozesses um einige Monate“. Nach Einschätzung von LBBW-Chefvolkswirt Uwe Burkertsind viele Unternehmen allerdings bereits auf den Notfall vorbereitet: „Ein harter Brexit ist wie eine heftige Erkältung. Es dauert länger, bis sie überwunden ist, aber sie wirft die Unternehmen nicht dramatisch zurück.“

Güterverkehr

Die Wiedereinführung von Fracht- und Zollkontrollen könnte kilometerlange Lastwagen-Staus auf beiden Seiten des Ärmelkanals verursachen. Sollte sich die Abfertigung im Hafen von Dover nur um zwei Minuten pro Lkw verlängern, sagte Arbeitgeber-Vertreter Dick, „würde dies nach Angaben des Hafenbetreibers zu Staus von rund 30 Kilometern führen“. Der Deutsche Speditions- und Logistikverband (DSLV) hält dieses Szenario allerdings für übertrieben. „Es wird zu Staus kommen, aber nicht in dieser Länge“, sagte DSLV-Geschäftsführer Niels Beuck unserer Zeitung. Er verwies darauf, dass die EU-Kommission für den Fall eines harten Brexit bereits eine neunmonatige Übergangsfrist vorgeschlagen habe, in der Lkw aus Großbritannien wie bislang ohne Kontrollen den Kanal überqueren könnten. Bedingung sei allerdings, dass die britische Regierung die gleiche Übergangsregelung für Lastwagen aus der EU zusichere.

Luftverkehr

Auch für den Luftverkehr zwischen Großbritannien und dem Kontinent hat die EU eine Übergangsregelung vorgeschlagen: Er könnte zunächst auf dem Niveau von 2018 aufrecht erhalten werden. Die Vergabe neuer Start- und Landerechte und damit eine Steigerung der Flugbewegungen gegenüber dem vergangenen Jahr wäre bei einem harten Brexit allerdings nicht möglich. Der internationale Luftfahrtverband IATA erwartet dieses Jahr eine Nachfrage nach fünf Millionen zusätzlichen Sitzen. „In dem kleinen Zeitfenster, das jetzt noch bleibt, müssen die EU und Großbritannen Planungssicherheit schaffen – für die Fluggesellschaften und für Reisende“, forderte IATA-Generaldirektor Alexandre de Juniac. Unklar sei zudem, ob Großbritannien und die EU weiter die Sicherheitskontrollen der jeweils anderen Seite anerkennen würden oder ob Passagiere ihr Gepäck bei jedem Flug mehrfach überprüfen lassen müssten, sagte ein IATA-Sprecher.

Autohersteller

Autos machen rund 30 Prozent der Exporte nach Großbritannien aus . Laut dem Verband der Automobilindustrie (VDA) wurden 2017 im Vereinigten Königreich 769 000 Pkw verkauft. Damit ist Großbritannien für Autos aus deutschen Werken das wichtigste Exportziel. Umgekehrt geht ein Großteil der britischen Pkw-Produktion nach Kontinentaleuropa. „Ohne geordnete und praktikable Lösungen für den Wirtschaftsverkehr stehen Jobs in der Automobilindustrie, insbesondere auf der britischen Seite, auf dem Spiel“, sagte der Verbandspräsident Bernhard Mattes. BMW und Volkswagen verfügen außerdem über Produktionsstandorte in Großbritannien. BMW hat bereits angekündigt, die jährliche Produktionspause im Mini-Werk in Oxford vorsorglich von August auf April vorzuziehen. Der Volkswagen-Konzern erklärte auf Anfrage, man habe zur Vorbereitung auf den Brexit die Lagerung und operative Prozesse angepasst. Ähnlich äußerte sich Daimler: „Wir haben Vorbereitungen getroffen, falls das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 ohne Übergangszeit aus der EU austritt. Diese Vorbereitungen decken alle relevanten Themen ab, zum Beispiel Lieferung und Transport von Waren, Zollverfahren oder Logistik“, so ein Sprecher. Auch der Stuttgarter Autozulieferer Bosch hat für diese Themen eine Task Force eingesetzt – das Unternehmen beschäftigt in Großbritannien 5200 Mitarbeiter.

Maschinenbau

Für die deutschen Maschinen- und Anlagenbauer ist Großbritannien der fünftgrößte Auslandsmarkt. Gut vier Prozent ihrer Ausfuhren gingen von Januar bis September 2018 ins Vereinigte Königreich. Entsprechend enttäuscht reagierte der Branchenverband VDMA auf das Votum des britischen Parlaments: „Das britische Unterhaus hat eine Chance vertan, den harten Brexit abzuwenden und die Grundlage für eine enge Beziehung zur EU zu legen“, kritisiert der VDMA-Präsident Carl Martin Welcker.

Chemie und Pharma

Die Branche befürchtet Schwierigkeiten bei einem ungeregelten Briten-Austritt, weil die Gesetzgebung für chemische Stoffe und Produkte weitgehend europäisch harmonisiert ist – der achtgrößte Handelspartner Großbritannien aber künftig von diesen Regeln abweichen könnte. Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) warnt sogar vor Problemen bei der Medikamentenversorgung: „Jedes vierte in der EU verkaufte Arzneimittel wird in Großbritannien freigegeben, weil dort neben den britischen vor allem auch große Hersteller aus den USA ihr Europa-Hauptquartier haben“, erläutert Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft beim BAH. „ Solange Großbritannien der EU angehört, müssen diese Produkte bei der Ausfuhr in andere EU-Staaten nicht noch einmal kontrolliert werden. Nach dem Austritt werden an der Grenze aber mindestens Zertifikate über die verschiedenen Qualitätskontrollen überprüft werden müssen. Möglicherweise wird sogar eine neuerliche Analyse durch Labors im Empfängerland nötig.“