Der „hässliche Deutsche“ geht wieder um in Europa, die Krise ruft die alten Ängste der Nachbarn vor Deutschland ans Tageslicht. Die deutsche Frage stellt sich seit Jahrhunderten. Zu beantworten ist sie nur mit neuen gemeinsamen EU-Zielen.

Stuttgart - Zweimal gelang es dem Stauferkaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, die Stadt Mailand zu erobern und zu unterwerfen. Nach dem zweiten Mal im Frühjahr 1162 ließ er die oberitalienische Metropole zerstören – Anlass für die Übertragung des in der Antike geprägten Begriffs des „furor teutonicus“ (Raserei der Teutonen) auf die Deutschen. „Unternehmen Barbarossa“ war wiederum der Deckname des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die verbündete Sowjetunion am 22. Juni 1941, mit der Hitlers Vernichtungskrieg gegen die UdSSR begann.

 

Nun stehen die Deutschen wieder am Pranger. Dabei galt doch die Einbindung in eine Europäische Union – vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, von zwei Weltkriegen und dem Holocaust – als beste Gewähr dafür, dass sich nationalistische und aggressive Versuchungen nicht wiederholten. Das europäische Integrationsprojekt versprach die Überwindung von Krieg und nicht zuletzt Deutschlands Rückkehr in die europäische Völkergemeinschaft. All das kann als geglückt gelten. Die Deutschen sind überzeugte Europäer und tun viel für Europa. Sie sind ziviler und politisch kultivierter denn je. Umso betroffener müssen sie nun feststellen, dass sie sich als größtes, wirtschaftlich erfolgreichstes und in der Krisenbewältigung mächtigstes Land als Adressat für Frust und Zorn anbieten.

Populistische Bewegungen suchen einen Sündenbock

Der Euro als neue und starke Währung hatte insbesondere den Südländern niedrige Zinsen beschert, die ihnen Wirtschafts- und Strukturreformen ermöglicht hätten. Das ist aber nicht geschehen, stattdessen haben sie Schulden angehäuft. Nun, nach der Finanzkrise, sollen sie sparen und nochmals sparen. Der Druck, der von den anderen Eurostaaten ausgeht, zwingt zu Einschränkungen gerade auch in den Sozialsystemen. Das geht bis an die Schmerzgrenze und weit darüber hinaus. Populistische Bewegungen suchen einen Schuldigen und finden ihn in Deutschland, dem besserwisserischen Oberlehrer der Nationen. Erinnerungen werden geweckt an die schlimme deutsche Vergangenheit: Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen und Hakenkreuzbinde. Das Stereotyp vom „hässlichen Deutschen“ ist immer der „Nazi“. Damit werden wir leben müssen.

Die Väter des Euro haben verkannt, dass man Nationen mit unterschiedlichen Mentalitäten und anderem wirtschaftlichem Gebaren nicht einfach unter einer Währung zusammenspannen kann. Das rächt sich jetzt. Die Deutschen wiederum haben unterschätzt, dass sie sogar unter Preisgabe ihrer D-Mark die argwöhnisch beobachtete stärkste Kraft in Europa bleiben. Und je länger der Euro in der Krise steckt, desto stärker tritt dieser Argwohn hervor. Zwar nicht nationalistisch, wohl aber wirtschaftlich ist die Bundesrepublik Deutschland zu einer hegemonialen Macht geworden. Diese Rolle hat das Land nicht angestrebt, aber sie ist faktisch da.

Plötzlich ist die leidige „deutsche Frage“ wieder da

Damit ist auch die leidige „deutsche Frage“ wieder da. Sie weist weit in die Geschichte zurück. Warum gibt es keine französische, keine englische Frage, so wie es offenbar eine deutsche Frage gibt? Die Antwort liegt in Geografie und Geschichte Europas. Was immer in Europas deutscher Mitte geschah, berührte die Interessen seiner Nachbarn. Deutschland war stets Achse und Ausgleichsmasse des europäischen Mächtesystems, so dass die Frage: „Wem gehört Deutschland, und wohin gehören die Deutschen?“ nur selten in den Händen der Deutschen lag. Wenn sie ihre Lage alleine bestimmten, war das die Ausnahme und nicht die Regel, wie etwa zur Zeit Bismarcks, und es hat nie lange gedauert.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg bildete der Westfälische Frieden von 1648 die eigentliche Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation für die letzten 150 Jahre seiner Existenz. Voraussetzung des innereuropäischen Gleichgewichts blieb, dass Deutschland nicht den Weg zu einem Nationalstaat einschlug. Hingegen konnten sich England und Frankreich – später auch Russland – ungestört zu Nationalstaaten entwickeln und sich dem Kampf um Vormacht in Europa und in der Welt widmen. So blieb es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.

Wer in der Mitte ist, reibt sich an den anderen

Dem Eroberer Napoleon konnte das Reich deutscher Nation nicht mehr standhalten. Aus den deutschen Kleinstaaten wurde französisches Satellitensystem. Auf dem Wiener Kongress – an dem Frankreich gleichberechtigt teilnehmen durfte – schuf Metternich den Deutschen Bund, ein rückwärtsgewandtes Bündnis deutscher Staaten, das eher dem Alten Reich glich. Es konnte nicht ausbleiben, dass die liberalen Bewegungen auf einen Nationalstaat drangen. Auf Gegenliebe bei den anderen Mächten stieß dies nicht.

Als die Abgeordneten der Paulskirche 1848 der Provinz Posen Autonomie gewähren wollten, drohte Russland mit Krieg. Und als man an die Einbeziehung Schleswig-Holsteins dachte, ließ England seine Flotte in die Nordsee einlaufen. Später, als Bismarck auf eine Reichsgründung hinarbeitete, empfand man das in Frankreich als unanständig und als Provokation. Wer Deutschland kontrollierte, hatte die Anwartschaft, europäische Vormacht zu sein. Damit ist klar: der Ort der deutschen Geschichte, mitten in Europa, bezeichnet auch die erste Bedingung der deutschen Frage. Was damals so war, ist auch heute noch so: Wie immer die Deutschen sich bewegen, sie reiben sich an den anderen.

Bismarck suchte die Antwort im Nationalstaat

Keine andere Nation muss sich so sehr wie die Deutschen mit anderen vergleichen, sich als Drehscheibe der europäischen Geschichte begreifen. Die Suche nach deutscher Identität setzt allemal europäische Antworten voraus. Das kann eine Last sein, ist aber unumgänglich. Die deutsche Frage war, durch geografische Lage und wirtschaftliches Gewicht bestimmt, immer ein europäisches Zentralproblem.

Bismarck suchte die Antwort im deutschen Nationalstaat. Dahinter stand nicht nur preußisches Machtstreben, sondern auch die Dynamik einer entstehenden Industriegesellschaft. Das Alte Reich wie auch der Deutsche Bund waren noch rein defensiv gewesen. Hingegen trat das Deutsche Reich von 1871 als Großmacht an. Von der sagte der englische Politiker Disraeli sofort, sie zerstöre das europäische Gleichgewicht und bedrohe die Position Englands. Nicht nur seiner Sonderlage wegen mitten in Europa war das Reich nach den Worten des Historikers Ludwig Dehio eine „halbe Hegemonie“.

Und sofort stellte sich die neue deutsche Frage: War dieses Reich nicht zu groß und zu mächtig, um sich in das Gleichgewicht Europas einzugliedern? Bismarck versuchte mit dem Wort vom „saturierten Reich“ die Nachbarn zu beruhigen, was man aber für Rhetorik hielt. Der Kanzler war um Ausgleich bemüht, weil er wusste, dass allein der Frieden die Machtstellung des Reiches garantierte. Deshalb hielt er nur eine rein defensive Politik für möglich. Seine Nachfolger haben diesen Rat allerdings nicht beherzigt.

Der französische Argwohn übersah Wesentliches

Kaiser Wilhelm II. hat mit seinen auftrumpfenden Reden das Bild von dem die europäische Ruhe störenden Deutschen geprägt. Aber merkwürdigerweise war es schon lange vorher da. Als nach dem Sturz Napoleons in Preußen erstmals ein deutscher Nationalismus kurzzeitig aufflammte, schrieb der in Heidelberg lebende Franzose Edgar Quinet: „Die Deutschen vergötzen sich selbst. Zerstörender Nationalismus macht sich breit, besonders in Preußen.“ Ein dünkelhaftes, aber praktisch überlegenes Volk werde sich auf seinen westlichen Nachbarn stürzen und alle Provinzen überfordern. Dabei hatte Quinet doch die Ruinen des Heidelberger Schlosses vor Augen; wenn er sich gefragt hätte, wer das Bauwerk zerstört hat, wäre er vielleicht etwas nachdenklicher geworden.

Quinet beschrieb die Deutschen als potenzielles Tätervolk, übersah aber, dass sie sich als Untertanen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation über Jahrhunderte hinweg passiv verhalten hatten und nicht selten Opfer fremder Mächte wurden. Dieses Alte Reich war ein etwas weltfremder Rechts- und Friedensverband, unfähig zum Angriff. Die Reformation stürzte es in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Das aber war vor allem ein Krieg fremder Mächte auf deutschem Boden. Auch Frankreich mischte sich ein und erhielt 1648 nach dem Westfälischen Frieden Teile des Reichslandes Elsass.

„Als wenn die Hölle sich geöffnet hätte . . .“

Ein erster wichtiger Schritt im Zeitalter König Ludwigs XIV. war, ohne jeden Rechtsgrund 1680 die Freie Reichsstadt Straßburg zu besetzen. Die Empörung im Reich war gewaltig. Das war kein nationaler Aufschrei, vielmehr sah man das Recht verletzt und fürchtete weitere Übergriffe. Mit Recht: im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) fielen die Franzosen ohne jede Veranlassung von deutscher Seite in die Pfalz ein und zerstörten Heidelberg, Oppenheim und Speyer. Ein Vorspiel zu dem, was 1792 geschah: die undisziplinierten und ausgehungerten französischen Revolutionsarmeen marschierten in den deutschen Südwesten ein, zerstörten Dörfer und drangsalierten die Menschen. „Als wenn die Hölle sich geöffnet hätte . . .“, notierte ein Zeitgenosse. Die Gräueltaten der Revolutionskrieger unter dem Befehl des Prinzen Condé gruben sich tief ins Gedächtnis der Menschen. Die Bevölkerung verarmte, und erschwerend kam noch eine Kälteperiode hinzu, die in einer dramatischen Hungersnot gipfelte. „Wenn wir nur Frieden im Land hätten“, schrieb ein Heilbronner Bürger, „bei diesem Krieg wird Land und Leut verderbt und ausgefressen.“

Die Truppen Napoleons, die 1805 kamen, waren disziplinierter, aber auch sie requirierten ihren gesamten Heeresbedarf aus dem Lande. Die Hoffnungen, welche die Deutschen im Südwesten in die Französische Revolution gesetzt hatten, waren ihnen gründlich vergangen. Napoleon versetzte dem Alten Reich den Gnadenstoß, und dessen Lande waren für ihn militärisches Aufmarschgebiet.

Napoleon langte gründlich zu

Die Satellitenstaaten, die er gründete, hatten ihm Soldaten zur Verfügung zu stellen. Und natürlich Geld. Von Preußen, das er nur russischer Bedenken wegen nicht völlig zerstörte, forderte er 155 Millionen Franc, musste dann aber einsehen: „Geschlachtete Hühner legen keine Eier mehr.“ Allein von der Stadt Königsberg verlangte er zwanzig Millionen Franc. Angesehene Handelshäuser stellten Wechsel aus. Zusätzlich belasteten die Stadt Kriegsobligationen, deren letzte Tilgungsrate erst 1901 geleistet werden konnte.

Angesichts dessen muss man sich wundern, dass nach dem Sturz Napoleons nicht ein gewaltiger Nationalismus und Franzosenhass aufflammte. Allenfalls in Preußen und während der Befreiungskriege gab es dafür Anzeichen, aber sie führten zu keiner Volksbewegung. Antifranzösisch waren vielleicht die Burschenschaften, nicht aber die Liberalen, die mehr und mehr die Politik beeinflussten. Allerdings hat Napoleon mit seinem Vorgehen die Grundlagen für einen Nationalismus gelegt, der ein einheitliches deutsches Reich anstrebte.

Der Krieg von 1870/71, den Frankreich den Deutschen erklärte und der Bismarck zum Zwecke der Reichsgründung willkommen war, änderte die Lage. Das neue Reich beging den schweren Fehler, Elsass-Lothringen zu annektieren, übersah aber dabei, dass die Bewohner keine Reichsbürger mehr werden wollten. Alte Reichslande hin oder her – Frankreich konnte den Verlust nicht verschmerzen. Der spätere Staatspräsident Poincaré sagte: „Wir müssen das Land zurückgewinnen, wenn nicht, ist das Leben nicht lebenswert.“

Wenn die Geschichte in die Gegenwart hineinragt

Die Annexion machte Deutschland und Frankreich zu „Erbfeinden“, ein Umstand, der beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Rolle spielte. Andererseits hatte der übersteigerte deutsche Nationalismus, der dem vorausging, seine Ursachen eben in der deutsch-französischen Vorgeschichte. Die Erbfolgekriege und Napoleons Besatzung wurden zunächst nicht thematisiert, führten aber zu einem, wie Golo Mann sagt, „heimlich rollenden Zorn der Deutschen“. Nach 1870 brach er sich dann Bahn.Die belastete Vergangenheit Deutschlands und Frankreichs ist nicht einfach nur Geschichte, denn sie reicht hinein in die Gegenwart. Argwöhnisch beobachteten die Franzosen die Stärke der Deutschen Mark und drangen deshalb auf einen europäischen Währungsverbund. Helmut Kohl stimmte begeistert zu, versprach er sich doch davon eine engere politische Union. Aber der Euro, ein rein politisches Projekt, hat die europäischen Dissonanzen nicht reduziert, sondern verstärkt.

Der Ecu wäre die Alternative gewesen

Es hätte eine Alternative gegeben. Als Europa das Projekt einer gemeinsamen Währung diskutierte, schlug der britische Premierminister John Major vor, die nationalen Währungen bestehen zu lassen und den Ecu als Überwährung einzuführen. Als eine Art europaweiter Verrechnungswährung der Wirtschaft war der Ecu längst üblich. Der Ausbau des Ecu zur europäischen Währung hätte mehrere Vorteile gehabt: alle europäischen Staaten hätten sich daran beteiligt, und die Einzelstaaten hätten die Möglichkeit behalten, ihre Währungen durch Auf- und Abwerten der konjunkturellen Lage anzupassen. Diese Flexibilität hat ihnen der Euro genommen. Nationale Finanzkrisen schlagen seitdem voll auf die gemeinsame Währung durch. Vor allem aber hätte der Ecu als überwölbende Währung die Deutschen davor bewahrt, wieder mit der leidigen deutschen Frage konfrontiert zu werden, von der Eurobefürworter wie Kohl, Waigel oder Schäuble gehofft hatten, sie werde in der europäischen Verankerung wohl endgültig verschwinden.

Gelassenheit und Verantwortungsübernahme tun jetzt Not

Ob sie es nun wollen oder nicht – den Deutschen ist die Rolle des ökonomischen Hegemons zugewachsen. Damit müssen sie verantwortlich umgehen, wenn sie am Ende nicht wieder als der „hässliche Deutsche“ dastehen wollen, der an allem schuld ist. Aus ihrer Geschichte müssen sie lernen, dass ihr Land in der Mitte zu groß ist für Europa, aber zu klein, um es zu dominieren. Dementsprechend kommt die Staatsräson der Bundesrepublik nicht mehr aus dem Nationalen, sondern ist durch die Einbindung in die EU und die Nato bestimmt.

Zu empfehlen ist zunächst einmal Gelassenheit, denn am ökonomischen Machtgefälle lässt sich derzeit nichts ändern. Sich kleiner zu machen, als man ist, würde dem Ressentiment das Misstrauen hinzufügen. Die Deutschen müssen einen anderen Ausweg wählen: Statt nur als Sparkommissar aufzutreten, der Schmähungen auf sich zieht, käme es darauf an, die eigene Politik deutlicher zu erklären und der EU neue Ziele zu setzen. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern etwa kann nicht länger hingenommen werden. Sie bedeutet, worauf die ILO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, dieser Tage hinwies, Gefahr für Europa.