Die wahre Spaltung in Deutschland ist sozial, nicht regional, meint unser Berliner Korrespondent Norbert Wallet.

Berlin - Wir sind ein Volk. In den hoffnungsprallen Wochen des Umbruchs und Aufbruchs in eine neue Zeit hatte diese auf die nationale Gemeinsamkeit abzielende Parole den noch gegen die DDR-Staatsführung gezielten Ruf „Wir sind das Volk“ abgelöst. In der Einheit lag für die Ostdeutschen die Aussicht auf wirtschaftliche Sicherheit, politische Freiheit und persönliches Glück. Diesem euphorischen Glückshunger entsprach im Westen das behaglich selbstgefällige Missverständnis, dass nun einfach zusammenwächst, was zusammengehört, wie es Willy Brandt ausdrückte. Eine Formulierung, in der auch die Erwartung mitschwang, dass bei allen Schwierigkeiten sich ein nationaler Konsens schon irgendwie von selbst einstellen werde, weil sich endlich Normalität etablieren könne.

 

Die Ostdeutschen als Sonderlinge?

Drei Jahrzehnte später wissen vor allem die Ostdeutschen, dass der Prozess des Zusammenwachsens schmerzhaft, manchmal traumatisch und vor allem langsam verläuft. Ob man nun die Erfolge betonen oder Irrwege hervorheben will, eines ist klar: Der Zauber des Anfangs ist einer Ernüchterung gewichen, und nüchternen Sinnes gerät noch immer viel Trennendes in den Blick. Das muss wohlgemerkt nicht grundsätzlich schlecht sein, denn die romantischen Verklärungen einer homogenen, auch emotional gleich strukturierten Gesellschaft hatten von Beginn an auch ihre gruseligen Aspekte.

Dennoch scheinen aus Westsicht gerade die vergangenen drei Wahlen im Osten mit ihren hohen Stimmenanteilen für eine völkisch rechtsnationale Partei deutlich zu machen, dass der Osten noch immer und in besorgniserregender Weise anders tickt. Die Ostdeutschen als Sonderlinge? Das ist eine verbreitete, aber falsche Analyse, wie sowohl ein Blich auf internationale Verhältnisse als auch eine Betrachtung aus nationaler Nahsicht bestätigt.

Lage in der EU ähnelt auffallend der deutschen Situation

Es ist auffallend, dass sich innerhalb der EU ein Prozess abspielt, der dem innerdeutschen frappierend ähnelt. 15 Jahre nach der EU-Osterweiterung fühlen sich die neuen Mitgliedsstaaten unverstanden, nehmen die Alt-Mitglieder als arrogant und egoistisch war, grenzen sich durch nationalstaatliches Beharren ab, während die Westeuropäer den neuen Partner unsolidarisches Verhalten vorwerfen. Wie Ostdeutschland im Kleinen haben die Osteuropäer insgesamt eine ungeheure Abwanderung und industrielle Umbrüche hinnehmen müssen. Ihr Zug ins kleinational Autoritäre ist ein übergreifendes Motiv, das in Ostdeutschland vergleichsweise sogar noch abgeschwächt aufscheint. Das macht deutlich, dass sich in Ostdeutschland Prozesse abspielen, die alle Gesellschaften erfassen, die den Sozialismus hinter sich gelassen haben. Es gibt durchaus keinen ostdeutschen Sonderweg.

Den gibt es aber auch in nationaler Betrachtung nicht. Was in den Wahlergebnissen auf den ersten Blick als West-Ost-Gegensatz erscheint ist tatsächlich ein gesamtdeutsches Phänomen. Nicht Ost-West ist die politische Bruchkante, sondern der Unterschied zwischen Globalisierungsgewinnern und Modernisierungsskeptikern. Ob Ost oder West – der Anteil von Menschen, die eine Nähe zur AfD haben oder dem Parlamentarismus skeptisch gegenüber stehen, ist in den entsprechenden Milieus in Ost und West sehr ähnlich. Nur gibt es im Osten mehr solche Milieus, etwa einkommensschwache Schichten oder Menschen in eher ökonomisch abgehängten Räumen. Die wahre Spaltung in Deutschland ist also keine regionale, sondern eine soziale.

Wer an Teilhabe gehindert wird, wendet sich ab

Für die Politik steckt darin eine glasklare Botschaft. Wer die nationale Einheit vollenden will, muss die soziale Einheit sicherstellen. Ob Ost oder West: Wer an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert wird, wendet sich ab. Darin sind wir dann tatsächlich ein einheitliches Volk.