Seit hundert Tagen leitet Stefan Raue als Intendant die Deutschlandfunk-Programme. Vor allem jüngere Hörer will er künftig ansprechen und forciert darum die Netzaktivitäten seines Hauses.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Früher, als die Senderanstalten noch strahlende, uneinnehmbare Rundfunkreiche waren, hatten auch deren Chefs, die Intendanten, gern einmal eine leicht barocke Attitüde. „Senderfürsten“ nannte man sie dann, zu ihrem Thron zwar gelangt in aller Regel durch die Gnade der politischen Mehrheit im Land, dann aber dort doch recht souverän agierend und über die zahlreichen Programme ihrer Angestellten, Macht, Imposanz und Einfluss ausstrahlend. Manche fingen während ihrer Amtszeit sogar an zu dichten.

 

Heute sind Rundfunkintendanten in der Regel gut geerdet, zugewandt, unprätentiös und pragmatisch. So wie Tom Buhrow vom WDR, Ulrich Wilhelm bei den Bayern, Peter Boudgoust in Stuttgart – oder eben Stefan Raue, der Chef des Deutschlandradios. Am 1. September übernahm Raue sein Amt, die ersten hundert Tage sind herum. Bei einem Treffen dieser Tage mit Journalisten in Berlin präsentiert er sich demonstrativ diskursiv: „Wir müssen auf die Leute zugehen. Wir müssen erklären, warum wir unser Geld wert sind und warum unser gesetzlicher Auftrag in einer Demokratie unverzichtbar ist.“ Deswegen darf man auch gern alles zitieren, was er heute Abend sagt, obwohl zum Treffen als an sich vertraulichem „Hintergrundgespräch“ eingeladen wurde. Sonst habe die ganze Zeit, die man da gemeinsam investiere, doch gar keinen Sinn. Das nennt man wohl eine Offensive an Offenheit. Wenn auch etwas ostentativ.

Der 59-jährige Raue hat den Journalismus im gewerkschaftsnahen Bund-Verlag, bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und beim WDR gelernt. Nach Stationen bei Rias-TV, der Deutschen Welle und beim ZDF war er ab 2011 sechs Jahre lang trimedialer – also Hörfunk, Fernsehen und Online zugleich verantwortender – Chefredakteur des MDR in Leipzig. Dann kam die Wahl auf den Chefsessel des Deutschlandradios als Nachfolger von Willi Steul – und, wenn man so will, Rückkehr an einen alten Arbeitsplatz. Denn just der Rias, der erfrischend freie, stilprägende Rundfunksender der amerikanischen Siegermacht im nachkriegsgeteilten Berlin, ist ja eine der Wurzeln der heutigen nationalen Rundfunkanstalt namens Deutschlandradio. Und im wunderbar restaurierten alten Rias-Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz in Berlin-Schöneberg findet sich eines der beiden Chefbüros Raues (das andere ist in der alten Deutschlandfunk-Zentrale in Köln).

Beobachter in den Gremien

Kompliziert, kompliziert. „Wir sind kein Teil der ARD“, betont Raue. „Wir sind Beobachter in den Gremien. Und wir sind Partner von ARD und ZDF bei unseren Plänen zur Strukturreform.“ Die Öffentlich-Rechtlichen haben auf Anforderung der Ministerpräsidenten der Länder Sparvorschläge gemacht, wie sie künftig in Verwaltung, Technik und Produktion besser kooperieren und so in den nächsten Jahren Millionen von Euro einsparen können. Ziel der Politik ist, den von den Bürgern ungeliebten allgemeinen Rundfunkbeitrag für alle Haushalte auch über 2020 hinaus konstant bei 17,50 Euro pro Monat zu halten. „Darin steckt eine Gefahr, denn das schränkt unsere Entwicklungsmöglichkeiten ein.“ Raue plädiert dafür, wenigstens die ganz reformunabhängige Steigerung der Sachkosten, Honorare und Gehälter von zwei Prozent pro Jahr auszugleichen. „Die Bürger müssten für den Deutschlandfunk gerade einmal einen Cent pro Monat mehr bezahlen.“ Klar, wer könnte zu einem solchen Kleckerbetrag schon Nein sagen?

Das ist wohl gerade der tiefere Sinn, wenn sich der Deutschlandradio-Intendant so demonstrativ von den ARD-Sendern separiert, vom weiten Feld der vielen völlig austauschbaren Pop-Radiowellen, der zahllosen dritten TV-Programme mit „Tatort“-Wiederholungen in Endlosschleife und der hochbezahlten Zwergfunkhäuser in Bremen oder Saarbrücken. „Wir kosten die Hörer 48 Cent im Monat“, sagt Raue. Tatsächlich: Vom Gesamtkuchen der Rundfunkbeiträge von rund 8,1 Milliarden Euro erhält das Deutschlandradio gerade mal 2,7 Prozent, rund 218 Millionen. Und wohl niemand, der die drei Radiowellen Deutschlandfunk, Kultur und Nova (die Jugendwelle) hört, wird bezweifeln, dass die Gebühren hier für ein öffentlich-rechtliches Wort- und Informationsprogramm investiert werden, wie es der Gesetzgeber sich mal gedacht hat: Radio mit viel Sinn.

Kampagne für das Digitalradio DAB plus

Zwei Millionen Hörer zählt der Sender pro Tag – wobei die Zahlen wie stets beim Radio etwas gewagt sind, hochgerechnet aus repräsentativen Telefonumfragen. „Objektiv zählen können wir die Interessenten auf unseren Webseiten und bei unseren Digitalangeboten.“ Wie alle öffentlich-rechtlichen Sender forciert auch Raue emsig die Netzaktivitäten seines Hauses, um vor allem jüngere Hörer anzusprechen – er scheut dabei nicht den Fight mit den Zeitungsverlegern, die ihre digitalen Angebote ebenfalls dringend ausbauen müssen, dabei aber anders als ARD, ZDF und Deutschlandradio nicht aus Quasi-Steuereinnahmen schöpfen können, sondern sich rein privat finanzieren müssen. „Wir müssen in Zukunft alle Inhalte anbieten können; Text, Audio, bewegtes Bild.“ Letzteres wäre im Falle des Deutschlandradios vielleicht der delikateste Punkt: In den Funkhäusern in Berlin und Köln wird ja nur Radio produziert, kein Fernsehen.

Raue kann beides: austeilen – „Die Verlage machen doch selbst längst deutlich mehr als Presse, wir können alle mal ins Netz gucken und suchen, was wir da noch Presseähnliches finden“, sagte er im November – und dann wieder freundlich einladen: „Ich finde, wir sollten unseren Streit nicht von Politikern oder Juristen entscheiden lassen“, sagt er in Berlin. „Es geht schließlich um journalistische Inhalte, und das sollten Journalisten unter sich klären.“ Warum sich nicht gemeinsam in ein Hotelzimmer zurückziehen und nach Kompromissen suchen, „ohne Bodyguards und Rechtsanwälte im Hintergrund“?

Bei der ganz klassischen Audiopräsenz startet der Sender nun eine weitere Kampagne für das Digitalradio DAB plus. Die Empfangsmöglichkeiten über die klassische Ultrakurzwelle sind bundesweit nicht zuverlässig. Die Jugendwelle Deutschlandfunk Nova (cooler Markenslogan: „Es ist kompliziert. Dazu guter Pop.“) setzt ohnehin vor allem auf digitale Verbreitung im Netz und über soziale Plattformen. Kein Zweifel, anspruchsvolles Radioprogramm wird linear (also live) zukünftig nur einen schrumpfenden Nutzerkreis erreichen, weil es eben nicht nur dudelt, sondern vor allem Debatten anbietet. Das öffentlich-rechtliche Angebot in Deutschland braucht eine Neuordnung. Das weiß wahrscheinlich sogar Stefan Raue, wenn er sagt: „Ein Hörfunksender, der verdonnert ist, lediglich Audios ins Netz zu stellen und ein paar verbindende Sätze dazu, der ist mausetot.“