DGB-Chef Michael Sommer absolviert seine letzte Maikundgebung in Bremen, wo einst seine Laufbahn begonnen hat. Nach seinen zwölf Jahren an der Spitze ist die Gewerkschaftsbewegung so geeint und respektiert wie wohl nie zuvor.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Bremen - Es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln. Noch einmal tritt Michael Sommer in Bremen auf – dort, wo der scheidende DGB-Vorsitzende Anfang der achtziger Jahre als Jugendsekretär der Postgewerkschaft seine Karriere begann. Die Weserstadt ist damals ein Stück Heimat geworden. Bei seiner ersten Maikundgebung 1981 in Bremen regnete es – und jetzt öffnet der Himmel erneut in dem Moment über den knapp 7000 Zuhörern die Schleusen, als Sommer zu reden beginnt. „So schließt sich der Kreis“, bemerkt er später.

 

Der letzte Arbeitstag wird der 11. Mai sein – zur Eröffnung des DGB-Bundeskongresses. Tags drauf wird sein Nachfolger Reiner Hoffmann gewählt, dann geht der 62-Jährige in Rente. Zwar muss Sommer eine Woche später noch den Kongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes leiten, dem er seit 2010 vorsteht – „als Weltpräsident der Gewerkschaften“, wie er sagt. Aber dies wird kaum Aufmerksamkeit erregen. Sein Büro in der Berliner Zentrale mit Blick auf den Hackeschen Markt hat er bereits am Ostermontag geräumt. Leicht gefallen ist ihm dies nicht, doch bereitet er sich seit vier Jahren auf den Abgang vor, nachdem er entschieden hatte, nach dieser Amtsperiode aufzuhören. Die Gelassenheit, mit der er dies bewältigt, nötigt selbst seiner Frau Ulrike Respekt ab, die ihn auf seiner Abschiedstour nach Bremen begleitet.

Schwere OPs und eine Niere für seine Frau

Zwischenzeitlich waren Zweifel aufgekommen, ob Sommer die dritte Amtsperiode im Amt vollendet. 2011 wurden ihm vier Fünftel des Magens und die Galle entfernt, im September vorigen Jahres spendete er seiner an Nierenversagen leidenden Frau eine Niere. Er hat viel Gewicht verloren. Heute geht es ihm „gesundheitlich ziemlich passabel“. Allenfalls das Immunsystem macht Schwierigkeiten; die Erkältungen häufen sich. Seine Frau, eine Schriftstellerin, kämpft zwar noch mit den Medikamenten, „doch wir freuen uns des Lebens“.

Nach einer USA-Reise im Januar hat er eine geplante Afrika-Tour im Februar auf Anraten der Ärzte abgesagt. „Ich muss kürzertreten – was mir schwerfällt.“ Neulich war er dennoch in Bangladesch und China, um die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Gewerkschaftsbund zu forcieren. Hinter der Verbotenen Stadt wollte er einen Hügel erklimmen, um eine Pagode zu besichtigen. Das war ihm angesichts der Hitze doch zu steil. „Da weiß man nicht: ist das jetzt das Alter oder die Krankheit“, sinniert er. „Ich sage mir: es ist das Alter.“

Viel Solidarität hatten ihm die Mitstreiter zuteilwerden lassen, als er nach den Organentnahmen jeweils eine längere Zeit ersetzt werden musste – drei Monate alles in allem. Keiner habe Vorwürfe geäußert. Dies sei ein Stück Kultur bei den Gewerkschaften. Er ist dankbar, nicht Repräsentant einer Partei zu sein – dort wären womöglich bald die Messer gewetzt worden.

Sommer ist mit sich im Reinen

Nun vermittelt Sommer den Eindruck der „Tiefenentspanntheit“. Politisch war seine Arbeit mit der Durchsetzung der Koalitionsvereinbarung praktisch erledigt. „Ich bin sehr mit mir im Reinen, weil ich die Projekte noch abschließe und nichts Neues beginne.“ Der Nachfolger soll ungestört arbeiten können. Menschlich und politisch verstehe er sich gut mit Reiner Hoffmann. Längst hat er ihn in die Arbeit des Vorsitzenden und in die Szene der politischen Entscheider eingeführt.

Der kilometerlange Bremer Demonstrationszug strebt derweil durch trostlose Einkaufsstraßen – der DGB-Chef marschiert ein letztes Mal vorneweg, den SPD-Bürgermeister Jens Böhrnsen an seiner Seite. Verdi-Mitglieder lassen hinter ihnen mit großer Lust ihre neun großen Mülltonnen klappern. Auf halber Strecke stoppt ein halbes Dutzend Gitarristen den Zug und stimmt ein altes Kampflied an. Der Arbeiterführer benötigt zwei Minuten, um sich locker zu machen, dann singt er beschwingt mit: „Keiner schiebt uns weg“, lautet der Refrain. Diese Devise hat Sommer verinnerlicht, denn er kommt von ganz unten. Er wuchs ohne den Vater auf und arbeitete mit 14 Jahren schon bei der Post, um sich den Bildungsaufstieg leisten zu können. Der Einsatz für die Schwachen prägt sein Denken und seine Sprache bis heute. „Da könnte ich kotzen“, wütet er über Andersdenkende.

Zehn Vorsitzende hatte der Gewerkschaftsbund bisher, nur Heinz Oskar Vetter war länger im Amt als Sommer. Wer hätte das gedacht, als der damalige Postgewerkschaftsvize nach der Verdi-Fusion 2001 von Frank Bsirske nach oben gehievt wurde, weil der Verdi-Chefposten schon besetzt war – von Bsirske. Ein Fall für die Geschichtsbücher? Der Aphorismen-Liebhaber erinnert sich an eine Weisheit des Willy-Brandt-Vertrauten Karl Garbe, wonach sich „der echte Lorbeer selbst auf der höchsten Stirn nach einer guten Sauce sehnt“. Weshalb Sommer darum bittet, nicht zu dick aufzutragen. Er habe ja auch nicht alles richtig gemacht, gesteht er.

Zudem sei der „Vorsitzende des DGB nicht der alleinige Macher“. Vieles wurde gemeinsam entwickelt. Da hebt Sommer vor allem den früheren IG-Metall-Chef Berthold Huber hervor. Sie kannten sich schon, als beide noch unbekannte Vorstandssekretäre waren. Konflikte wurden trotzdem ausgetragen, etwa als Huber 2008 die Effektivität und die Finanzierung des DGB infrage stellte, was Sommer zu radikalen Veränderungen zwang. „Das war nicht von Pappe, aber menschlich hat es zwischen uns beiden gestimmt – bis heute“, sagt der Dachverbandschef dankbar, weil er sich bisweilen einsam fühlte. „Freundschaften hat man nur noch wenige, da ist es sehr wichtig, bei den Kollegen auf der gleichen Ebene so etwas wie Vertrauen und Solidarität zu empfinden.“ Den meisten sei nicht klar gewesen, wie sehr der DGB als Institution in Gefahr war. Stets musste er den Leuten sagen: Macht euch mal keine Sorgen. Wie ein Unternehmensberater hat er teilweise gearbeitet und eine Struktur entwickelt, die heute im DGB gelebt wird. „Ich habe den Gewerkschaftsbund mit der Reform 2010 gerettet.“

Der Retter des Gewerkschaftsbunds

Vier Jahre davor hatte Sommer auf dem DGB-Kongress seinen schwärzesten Tag erlebt: ein Votum von 78,4 Prozent. Für ihn ein dramatisches Erlebnis. Er stand kurz davor, die Wahl abzulehnen. Heute denkt er: das war verdient. Er habe gewackelt und im Streit über die Agenda 2010 nicht klar Position bezogen, weil er den Laden zusammenhalten wollte. „Das war ein großer politischer Fehler, für den ich die Quittung gekriegt habe.“ Dass er damals seine profilierte Stellvertreterin Ursula Engelen-Kefer verdrängte, kostete weiteren Kredit.

Wiedergeburt der Einheitsgewerkschaft

Sommer warb fortan um gemeinsame Grundsatzpositionen in den eigenen Reihen und trug so zur Wiedergeburt der Einheitsgewerkschaft bei. Heute redet der DGB mit allen demokratischen Parteien. Wurde der Vorsitzende bei Amtsantritt noch als Insolvenzverwalter einer untergehenden Gewerkschaftsbewegung tituliert, ist sie nun respektiert wie nie zuvor.

Seinen politisch bedeutendsten Schritt sieht der DGB-Vorsitzende in seiner Idee einer neuen Ordnung der Arbeit. Beide großen Elemente, die er 2010 auf dem Kongress im Grundsatzreferat entwickelt hatte, die Renovierung der Tarifautonomie und der gesetzliche Mindestlohn, werden jetzt Wirklichkeit. „Dann ist es immer so: der Erfolg hat viele Väter – und der Misserfolg ist ein Waisenkind“, sagt er. „Jetzt hat das Tarifpaket unglaublich viele Väter.“

Immer wieder Ärger mit Schröder

Sommer & Co. finden Gehör – vor allem bei Angela Merkel, die Anfang Juni wichtigster Gast beim Abschiedsempfang sein wird. Wie abschätzig dagegen wurde er von Gerhard Schröder behandelt. „Das ist der Sommer, den können Sie gern hier behalten“, hat der damalige Kanzler auf einer Afrikareise den Gastgebern in Ghana verkündet. Die Verletzungen sitzen tief.

Ein noch bitterer Tag war der 13. März 2003, als Schröder ihn anrief und mit Blick auf seine Agenda-Rede einen Tag später ankündigte: Die Forderung nach mehr betrieblichen Bündnissen für Arbeit lasse er raus. Sommer, der dadurch die Entmachtung der Gewerkschaften fürchtete, entgegnete: „Das ist das Mindeste, was wir von dir erwarten können.“ Daraufhin konterte Schröder: „Gut, dann nehme ich es rein.“ Viele Tiefpunkte um die Agenda sind im Gedächtnis hängen geblieben und haben Sommer sehr belastet. Am Wochenende nach der Agenda-Rede hat er sich mit Holzhacken abreagiert, bis ihn seine Frau als Vorsitzende des SPD-Ortsvereins aufforderte, das Kladower „Imchen“ zu verteilen. Der DGB-Chef hatte aber keine Lust, für eine „Scheißpartei“ auch noch die Ortsteilzeitung auszutragen. Letztendlich hat er sich ihrer Mahnung gebeugt und weiterhin die 300 „Imchen“ in die Postkästen gesteckt und Plakate aufgehängt. Seit 1981 gehört er der SPD an. Seiner Partei trotz aller Widersprüche die Treue zu halten, hat nie infrage gestanden. Er blieb, um den anderen nicht das Feld zu überlassen.

Es sollte sich lohnen: Mit den Parteichefs Kurt Beck und Sigmar Gabriel gelang es, auf den Trümmern der Agenda-Auseinandersetzung einen gemeinsamen Weg zu finden. „Wir sind wieder aufeinander zugegangen, trotzdem wird es, solange ich lebe, nie mehr so werden, wie es war.“ Vertrauen sei zerbrochen – und Liebe. „Manchmal ist es sinnvoller, eine Vernunftehe zu pflegen als eine Liebesbeziehung.“

Zum Abschied ein Gedicht

Am Schluss seiner letzten Kundgebungsrede zitiert Sommer von Bertolt Brecht das Gedicht „Mailied der Kinder“ und gesteht danach, den Tränen nahe gewesen zu sein. Bald wird er ins Normalleben entlassen – raus aus dem „betreuten Arbeiten“ in 21 Jahren Vorstandstätigkeit, bei der er kaum einen Flug selbst buchen musste. Dies sei ein schwieriger Prozess. Auch sich hinzusetzen und ein Buch in die Hand nehmen fällt ihm schwer. Doch er macht es und geht oft mit seiner Dogge Theo spazieren. Ein paar „Nachverwendungen“ bleiben: ein Aufsichtsratsmandat bei der Telekom, das Kuratorium der VW-Stiftung und der stellvertretende Vorsitz der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort wird er sich den 100 Außenbüros und der Kooperation mit den Gewerkschaften widmen.

Dann ist da noch seine Frau, die mehr Freiraum für ihre Tätigkeit bei der Berliner SPD erhalten soll. Er selbst will mit Theo nach Frankreich fahren – zum Lernen. Ein Lebenstraum: Sommer wurde im rheinischen Büderich geboren, lebte als Kind in einem Waisenhaus und zog später mit seiner alleinerziehenden Mutter nach Westberlin in den französischen Sektor. In der Schule siegte die Faulheit über die Lust am Vokabelpauken. Das will er am Atlantik nachholen. Die Rente solle man nicht als Vorbereitung auf den Tod betrachten, sondern als eine eigene, schöne Lebenszeit.