„Reinhold Nägele – Chronist der Moderne“ lautet der Titel einer Ausstellung, die noch bis 3. Juni im Kunstmuseum zu sehen ist. Darin enthalten: viel Stadtgeschichte.

Stuttgart - Ein ausdrucksstarkes Bild: „Königstraße am Wilhelmsbau“. Gemalt hat es Reinhold Nägele im Jahr 1935. Das Temperagemälde, das Teil der Ausstellung im Kunstmuseum ist, wir aus urheberrechtlichen Gründen jedoch nicht abbilden dürfen, zeigt das Herz Stuttgarts am Abend, erhellt durch elektrisches Licht. Noch wenige Jahrzehnte zuvor waren Plätze und Straßen der Stadt in Schummerigkeit gehüllt gewesen. Erst die Erfindung des elektrischen Stromes hatte Stuttgart zum Leuchten gebracht.

 

Es lohnt sich, genauer hinzuschauen: „Täglich Künstler“ verspricht eine beleuchtete Reklame vis-à-vis von einem Schuhhaus in Nägeles Gemälde. In helles Licht getaucht sind auch die anderen Geschäfte, die elektrisch betriebenen Straßenbahnen, die damals über die Königstraße fuhren, und der Tagblatt-Turm, dessen signifikante Konturen – elektrisch erhellt – am Horizont den Bildbetrachter grüßen.

Nägele begleitete den wirtschaftlichen Aufschwung seiner Stadt mit Pinsel, Farbe und durch Radierungen. Denn nicht nur rege Bautätigkeiten kündeten vom Aufbruch in die urbane Modernität. Auch die Elektrifizierung war ein Zeichen des Großstädtischen und Modernen.

Seit 1896 läuft die Straßenbahn elektrisch

„Das neue Licht“: Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das elektrisch erzeugte Licht zum Symbol des Fortschritts. Die Menschen bestaunten die Festbeleuchtung bei nationalen Gedenktagen und lokalen Großereignissen. 1882 berichtet ein faszinierter Chronist, der Wilhelmsplatz in Stuttgart sei dank des elektrischen Stromes „in Tageshelle gebreitet“. Ein anderer Chronist mokiert sich, dass „die Zuschauer im Theater nicht etwa durch schlechte Inszenierungen, sondern durch das fade Gaslicht schläfrig geworden“ seien. Denn nicht nur Fabriken, Kaufhäuser und Baustellen konnten seit der Erfindung der elektrischen Glühleuchte durch Thomas Alva Edison 1879 erhellt werden – auch Theater und Konzertsäle. Neugierig kamen 1896 eine Million Besucher zur elektrotechnischen Landesausstellung nach Stuttgart.

Doch erst nach anfänglichem Zögern von Stadtverwaltung und Gemeinderäten erlebte Stuttgart als größte Stadt Württembergs eine rasche Elektrifizierung. 1895 ging das erste öffentliche E-Werk in Betrieb; ein Jahr später wurde die Straßenbahn elektrisch angetrieben. Jetzt wollten alle „das neue Licht“ haben.

Nägele malte immer wieder das erhellte Stuttgart

Und so schimpfte ein Berichterstatter 1899 in der „Laupheimer Zeitung“: „Es ist beschämend für unsere Oberamtsstadt, dass rings um uns bäuerliche Ortschaften in elektrischem Licht erstrahlen, während bei uns noch Finsternis herrscht.“ 1928 lud die Stuttgarter Stadtverwaltung zu einem Lichtfest ein. Reinhold Nägele teilte die Euphorie und reiste noch im gleichen Jahr zur spektakulären Berliner „Lichtwoche“, bei der die Stadt als strahlende Metropole der Moderne inszeniert wurde.

Immer wieder malte Nägele (1884–1972) das erhellte Stuttgart von Standorten wie dem Bopser, dem Kriegsberg und dem Hasenberg aus. Wie Scharen von Glühwürmchen tupfte der Maler Lichtpunkte mit dem Pinsel auf die Leinwand. Besonders schön erstrahlt auf dem Gemälde „Königstraße am Wilhelmsbau“ der Tagblatt-Turm. In den Jahren 1927 und 1928 erbaut, wurde das erste Hochhaus Stuttgarts und zugleich das erste Stahlbeton-Hochhaus Deutschlands nach den Plänen von Ernst Otto Oßwald zum Vorzeigeobjekt des Neuen Bauens. Schon 1928 betonten Neonröhren die äußeren Formen des 18-geschossigen Bürogebäudes. Der Name Tagblatt-Turm weist auf die bis 1943 dauernde Nutzung durch das als liberal-demokratisch angesehene „Neue Tagblatt“ hin. Nach dem Krieg lieferten Redakteure der Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung neueste Meldungen aus dem Tagblatt-Turm; Bis heute unterhalten sie dort ein Büro. Nach dem Umzug der Zeitungen von der Stadtmitte nach Möhringen in das 1976 fertiggestellte Pressehaus und nach umfangreichen Umbauarbeiten wurde der Tagblatt-Turm 2004 zum Namensgeber für die dort beheimateten Theater und Kultureinrichtungen. Seit 1976 steht das architektonisch wie stadtgeschichtlich bedeutsame Denkmal unter Schutz.