Ex-Salamander-Chef Franz Josef Dazert wird am Montag 90. Er sieht den untergegangenen Schuhhersteller als Opfer der Eigner, räumt aber auch eigene Fehler ein.

Stuttgart - Franz Josef Dazert meidet das große Salamander-Areal mitten in Kornwestheim. Es liegt keine zwei Kilometer von seinem Haus entfernt; da ist es fast schwerer drumherum als hinein zu kommen. Aber was soll er da? Einzig das frühere Hauptgebäude in der Stammheimer Straße 10, in dem der Patriarch Dazert jahrzehntelang sein Büro hatte, strahlt Charme und Würde aus, lässt frühere Größe spüren. Der alte Paternoster, 1925 von der Stuttgarter Firma Stahl gebaut, ist noch da und in Betrieb – eine Attraktion; wer Glück hat, den fordert die freundliche Dame am Empfang zu einer Probefahrt auf.

 

Dutzende von Unternehmen haben sich auf dem Gelände mit den vielen roten Backsteinbauten niedergelassen, vom Trigema-Testgeschäft über das Brillen-Outlet bis zur Jeans-Halle. Auch ein großer Schuhladen ist hier, der Salamander und weitere Marken der Mutter Ara verkauft. Der Feuersalamander Lurchi, das Markenzeichen von Salamander, ist natürlich auch präsent und macht Werbung für die Kinderschuhmarke Lurchi. Mehr noch. Vor dem Laden stehen ein Löwe und ein springendes Pferd aus Blech, die à la Lurchi schwarz-gelb lackiert sind. Warum auch immer. Manches erinnert an die Gründerzentren, die in den Achtziger Jahren unter Ministerpräsident Lothar Späth angesagt waren: neue Mieter in uralten Fabriken. Auf Hightech wie bei Späth deutet hier allerdings nichts, um so mehr auf Outlet-City.

Die Klagen sind nicht gut angekommen

Seit gut zehn Jahren ist der einst größte Schuhhersteller Europas nun Geschichte, dokumentiert durch einen Insolvenzantrag. Salamander mit seinen tausenden Beschäftigten ist zerschlagen, und damit hat Dazert seitdem gehadert, vernehmlich und öffentlich. Das kam nicht überall gut an. Die Klagen über die Nachfolger und die Eigentümer galten vielen als die Rechthaberei eines verbitterten alten Mannes, der sein eigenes Scheitern und den Zusammenbruch des Lebenswerks nicht eingestehen mochte.

Von Verbitterung freilich kann bei dem gebürtigen Rheinländer Dazert kurz vor seinem 90. Geburtstag an diesem Montag keine Rede sein. Er strahlt eine heitere Gelassenheit aus und sieht die Gründe für das Salamander-Drama durchaus klar – und er sucht sie, stärker als früher, auch bei sich: „Natürlich wurden Fehler gemacht, auch ich habe Fehler gemacht.“ Aber es klingt doch etwas bemüht, wenn er tut, als habe er mit der Vergangenheit abgeschlossen und sagt: „Ich schaue vorwärts, die Gegenwart zählt.“ Die unmittelbare Gegenwart, das ist für ihn, der eigentlich nicht zu ausgiebigen Feiern neigt, jedoch die Aussicht auf gleich drei Festtage: Schon am Sonntag gibt es zusammen mit den Freunden ein Mittagessen im „Adler“ in Asperg. Aus Salamander-Zeiten gehören da unter anderem noch Werner Rost, der im Vorstand für den Auslandsverkauf zuständig war, und Dazerts Nach-Nachfolger auf dem Chefsessel, Claudius Haasis, dazu – wenn der es trotz Krankheit schafft. Tags darauf, am eigentlichen Geburtstag, ist dann die Familie zum Mittagessen eingeladen, und am 1. Februar findet im Allgäu, seiner zweiten Heimat, ein feierlicher Gottesdienst mit den dortigen Freunden statt, dem sich dann ein Brunch anschließt.

Wie Opel auf dem Automarkt

Jede Pleite ist eine Niederlage, aber eigentlich hat Salamander erstaunlich lange durchgehalten. In Deutschland geriet das Unternehmen schon in den Sechziger Jahren immer mehr ins Abseits, weil die Domäne der Kornwestheimer zerbröselte, der einfache, gebrauchsfähige Schuh, wie es in der Salamander-Sprache hieß. Oder der Schuh für den Bediensteten und die Bedienstete, wie es Mitgründer Max Levi formulierte. Salamander war für die Schuhbranche das, was Opel auf dem Automarkt zugesprochen wurde: robust und zuverlässig, aber erschreckend unspektakulär. Trotzdem waren Sätze wie dieser aus dem Mund von Dazert bisher nicht zu hören: „Das Schuhgeschäft, so wie es geführt wurde, war einfach nicht mehr lebensfähig.“ Denn bis in die Neunziger Jahre hinein konnte Salamander seine Schwäche auf dem Heimatmarkt durch das von Dazert in seiner Zeit auf dem Chefsessel (1974 bis 1989) initiierte Ostgeschäft in der DDR und in der Sowjetunion noch kompensieren.

Trotzdem sind Schuhe Mode. „Und Salamander hat es nicht geschafft, in die Mode zu gehen“, sagt nun der frühere Vorstandschef. Nach außen hat das Unternehmen diesen Mangel an Flair ignoriert. Als Beleg dafür dienen Dazert die Plakate von Otto Glaser, der in den Fünfziger und Sechziger Jahren mit mehr als 150 Plakaten stilistisch die Werbelinie von Salamander geprägt hat: ein Hauch von großer Welt, fast mondän. „Was Otto Glaser für uns gemacht hatte, war wunderbare Plakatkunst, aber es hatte nichts mit Salamander zu tun. Wir haben nie in dem Sinn elegante Schuhe gemacht. Das war eine absolute Diskrepanz.“

Bei Deichmanns Angebot hat Dazert nicht angebissen

Dazert, der zuvor Chef des Besteckherstellers WMF war, ist als promovierter Volkswirt kein Mann der Mode, erkannte aber das Defizit. So wurde neben die traditionelle Damenschuh-Kollektion eine modische Variante gestellt. Dazert: „Wir haben es versucht. Ich kann nur sagen, dass es ist nicht gelungen ist.“ Eine andere Strategie ist auch nicht aufgegangen. Salamander legte sich Zweitmarken für das modische Segment zu: Betty Barclay, Sioux, Apollo, Lurchi und Camel. „Das hatte mal Erfolg und mal keinen Erfolg“, sagt Dazert. Sein Urteil: falsche Strategie.

Der Niedergang ist aus Sicht des Exchefs trotzdem nicht zwangsläufig gewesen. Und er macht sich selbst den Vorwurf, den Ausweg nicht gesehen zu haben. Ende der Siebziger Jahre hat der aufstrebende Schuhfilialist Heinz-Horst Deichmann, der im vorigen Jahr gestorben ist, Dazert im Allgäu aufgesucht. Deichmann, der bei Salamander groß geworden war, bot ihm den Verkauf der modischen und preiswerten Deichmann-Schuhe über die Salamander-Filialen an. Dazert heute: „Ich habe nicht angebissen, weil ich Schiss hatte. Das war ein Fehler.“ Er hatte Zweifel, dass Salamander seine Identität bewahren kann, wenn parallel billigere und qualitativ vielleicht schlechtere Schuhen angeboten werden.

In der Summe hat Russland Gewinne eingefahren

Das wirkte sich lange nicht aus, weil das Ostgeschäft von den Siebziger Jahren an für eine immense Nachfrage nach vielen Millionen von Schuhen genau der Machart sorgte, die immer die Spezialität von Salamander gewesen sind: einfache, gebrauchsfähige Schuhe.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 änderten sich freilich die Verhältnisse. Dazerts Nachfolger Gerhard Wacker verstand sich nicht als Ostpionier wie sein Vorgänger und beobachtete mit Sorge, dass im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion die Probleme in dem Land größer wurden. Dazert konnte nicht verhindern, dass Salamander das Gemeinschaftsunternehmen Lenwest aufgab, was ihn bis heute umtreibt: „Russland wird immer ein Markt sein. Ich halte es für den größten Fehler meiner Nachfolger, dass sie das aufgegeben haben. Im Übrigen haben wir in Russland in der Summe trotz aller Probleme kein Geld verloren, sondern Gewinn gemacht.“

Das Unternehmen wurde zum Spielball der Investoren

Dass die Rentabilität des Schuhgeschäfts nur gering war, räumt Dazert ein. „Ohne Wenn und Aber: das Schuhgeschäft in Deutschland war nicht in Ordnung. Das haben wir nicht hingekriegt.“ Stolz ist er aber darauf, dass die Verluste mit seiner Diversifikationsstrategie unter dem Strich für den Konzern mehr als kompensiert werden konnten: Salamander kaufte profitable Dienstleister wie Gegenbauer und die Deutsche Industriewartung DIW sowie den Parkhausbetreiber Apcoa.

Deshalb ist der Niedergang des Schuhgeschäfts keineswegs Dazerts eigentliches Drama. Vielmehr ist Salamander zum Spielball von Investoren geworden, wie so viele andere Traditionsfirmen von DLW bis WMF auch. Um die Jahrtausendwende trennten sich die Banken und Versicherungen, die Kernaktionäre von Salamander, von ihrem Besitz – so wie überall sonst auch: das Ende der Deutschland AG.

Lothar Späth hat das Geld nicht zusammengekriegt

Auf der Suche nach Investoren geriet Dazert letztlich an den Falschen. Die durchaus interessierte Jenoptik von Lothar Späth hatte am Ende nicht das nötige Geld, die Deutsche Bank drückte aufs Tempo, und so kam im Jahr 2000 ein Deal mit der Energie Baden-Württemberg (EnBW) zustande, die mit dem französischen Strommonopolisten EdF einen neuen Großaktionär erhalten hatte. EnBW-Chef Gerhard Goll konnte mit den ehrgeizigen Plänen der Franzosen punkten: Sie wollten bis 2004 einen zweistelligen Milliardenbetrag für Zukäufe ausgeben und auch der EnBW Zugriff auf diesen Topf gewähren, wie er der Stuttgarter Zeitung im Interview sagte. Davon war aber schnell keine Rede mehr, als die EdF in die Krise geriet und den Chef auswechselte.

Niemand in Paris interessierte sich für Salamander. Bei der EnBW galt die Parole von der Konzentration auf das Kerngeschäft. Die Folge: das Salamander-Vermögen wurde um fast jeden Preis versilbert. Der Parkhausbetreiber Apcoa wechselte für 265 Millionen Euro den Besitzer; der machte zweieinhalb Jahre später daraus 885 Millionen Euro. Der aus vielen Topadressen bestehende Immobilienbestand galt mit seinem Verkaufspreis von 110 Millionen Euro in der Branche als Schnäppchen. Die Immobiliengruppe Alfred Doblinger, so hieß es damals, hätte 210 Millionen Euro bezahlt. Weitere Aktionen folgten in kurzen Abständen. Der Stuttgarter Rechtsanwalt und Insolvenzspezialist Volker Grub sollte als Vorstandschef für fast 100 Töchter mit 19 000 Beschäftigten einen Käufer finden. In einem Interview hat Grub bestätigt, dass es Golls Nachfolger als EnBW-Chef, Utz Claassen, nicht um den besten Preis ging, sondern ums Tempo. Dazert ist überzeugt, dass Salamander hätte überleben können.

Die Fäden wurden in Paris gezogen

Womöglich ist der Konzern nur an den falschen Eigentümer geraten. Dazert denkt über diese These kurz nach und antwortet dann mit einem Wort: „Einverstanden.“ Als Beleg holt er den Geschäftsbericht 2001 hervor, den letzten vor dem großen Ausverkauf, und zeigt auf ein paar Kerndaten: 52,5 Millionen Euro Betriebsgewinn bei 1,3 Milliarden Euro Umsatz; 15 Prozent Dividende. Kurz vor seinem 90. Geburtstag ist Dazert gnädig gestimmt. Er verzichtet darauf, den damaligen Akteuren Vorwürfe zu machen und sieht sie mitleidig als Knechte, die allein im Konzernauftrag gehandelt haben. Am besten zu sprechen ist Dazert noch auf Goll, mit dem er auch noch lange in Kontakt stand. Goll selbst hat eingeräumt, dass er eigentlich hätte zurücktreten sollen, als klar wurde, dass die EdF ihre Zusagen nicht einhalten würde. Goll und Dazert, beide sind Opfer des Strategieschwenks in Paris, wobei die Folgen für Salamander dramatischer als für die EnBW waren.

Dazert denkt wehmütig an die Zeit zurück, als Salamander noch im Besitz der Gründerfamilien Sigle und Levi war. Denn das Familienunternehmen hält er für die ideale Form; Würth und Ravensburger fallen ihm als positive Beispiele ein. Banken und Versicherungen, die bei Salamander lange das Sagen hatten, sind aus seiner Sicht keine idealen Aktionäre, wenngleich sie in der Regel den Vorständen viel Freiraum gelassen haben. Dazerts Einwand: In der Krise wollen sie nur ihr Vermögen retten, die Familie jedoch will das Unternehmen retten. Die Familie Sigle hat Ende der Sechziger Jahre den größten Teil ihrer Aktien verkauft. Bis dahin gehörte ihr die Mehrheit, nachdem sie zu Beginn der Dreißiger Jahre der jüdischen Familie Levi deren Anteile abgekauft hatte.