Vom Schauspieler zum Schriftsteller: In „Raumpatrouille“ erinnert sich Matthias Brandt an seine Kindheit als Sohn des Bundeskanzlers Willy Brandt – ein erstaunliches Erzähldebüt, das schon jetzt zu den Überraschungen des Buchherbsts zählt.

Stuttgart - Im Haus auf dem Bonner Venusberg herrscht gespenstische Stille. Die Abwesenheit jeglichen Lebens ist mit Händen zu greifen: „Keiner da“ lautet der erste Satz des schmalen Erzählbands, den der Schauspieler Matthias Brandt jetzt vorgelegt hat. Es ist sein Debüt als Autor – aber was für eins! Die stilistische Souveränität, mit der er seine Reise in die Kindheit antritt, ist erstaunlich. Als hätte er noch nie etwas anderes gemacht als geschrieben, setzt der Literaturnovize in seiner „Raumpatrouille“ kein Wort zu viel. Keine seiner Beobachtungen ist überflüssig, keine seiner Erklärungen aufdringlich: Die vierzehn autobiografisch geprägten Miniaturen zeigen den Schauspieler als Meister der Erzählökonomie, der mit überscharfem Blick die Wirrnisse eines jungen Menschen schildert, der zufällig der Sohn eines Bundeskanzlers war und in einer nach dem Krieg zufällig zur Bundeshauptstadt gewordenen Kleinstadt am Rhein aufwächst.

 

Aber es ist „keiner da“ in der ausladenden Villa, die der Ich-Erzähler von „oben bis unten und von links nach rechts“ durchwandert, bevor er in seinem Kinderzimmer vergeblich nach der Jaguarmatic-Spielzeugpistole sucht. Nichts als „träge, triefende Langeweile“ – und der Junge geht in „Alles anders“, dem Auftakt des Erzählreigens, in den weitläufigen Park, wo er sich mit den patroullierenden Sicherheitsbeamten angefreundet hat. Als Herr Stöckl sein Wachhäuschen verlassen muss, kann der Junge der Verlockung nicht widerstehen: Er öffnet die Schreibtischschublade und holt statt der Jaguarmatic eine echte Pistole raus. „Papapapapapapa“ flüstert er und zielt auf den zurückkehrenden Wachmann. In letzter Sekunde legt er die Pistole zurück, rennt in Panik aus der Stube und hechtet auf sein Bonanzarad: „Ich fuhr so schnell ich konnte in den Wald hinein, weil ich wusste, dass am Ende meiner Kräfte diese leidige Wut, von der ich nicht wusste, woher sie kam, nicht mehr so groß und beherrschend sein würde.“

Herr Lübke und die heiße Schokolade

Der Ich-Erzähler von damals, um die zehn Jahre alt, irrt durch einen Nebel diffuser Ängste und Aggressionen, aber es scheint so, als kenne der 1961 geborene Erzähler von heute durchaus die Quelle der kindlichen Wut. Nicht nur in der ersten Erzählung, auch in allen folgenden lässt Brandt einen großen Abwesenden durch die wechselnden Szenerien geistern, einen übermächtigen Unbekannten, der mit anderem als dem Familienglück beschäftigt war: Der ihm unvertraut, ja fremd bleibende Vater, der als Willy Brandt schon damals ein Denkmal war und für den Sohn unerreichbar. Unentwegt ist der kleine Matthias mit seiner Kinderfantasie auf der Suche nach Ersatzvätern, sei’s der in der Nachbarschaft wohnende nette Herr Lübke, der Bundespräsident war und heiße Schokolade liebt, sei’s der geheimnisvolle Briefträger Herr Vianden oder eben der leutselige Wachmann Herr Stöckl, der kurz seinen Posten verlässt – und wenn der Junge mit „Papapapapapapa“ auf ihn schießt, steckt im lautmalerischen Kugelhagel nicht von ungefähr dreimal der sehnsüchtig vermisste, inständig gehasste Papa drin.

Brandt wägt seine Worte genau ab. Mit präziser Sprache taucht er in sein früheres Leben ein, um sich als introvertiertes Kind, das nur bei seiner Mutter die erwünschte Geborgenheit findet, wieder auferstehen zu lassen. Genau das, Präzision, Empathie und Psychologie, sind auch die Mittel, mit denen er als Schauspieler vor der Kamera, unter anderem im Münchner „Polizeiruf 110“, brilliert. Brandt treibt seine Filmfiguren nicht in die Explosion, sondern in die Implosion, er trumpft in seinen Rollen nicht auf, sondern verglüht, verglimmt, verkohlt auf minimalistische Weise. Und dieses Unterspielen prägt auch sein Schreiben: Die Erwachsenenperspektive lässt Brandt höchstens sachte hinter der strikt durchgehaltenen Kinderperspektive aufblitzen, dabei fern jeglicher Besserwisserei, die angesichts der Naivität eines sich in eskapistischen Träumen verlierenden Jungen nahe liegen würde. Aber Brandt verrät das Kind, das er war, nicht. Und wenn er dann doch mal aus der Vogelperspektive auf seine Vaterlosigkeit blickt, dann mit grimmigem Humor.