Es ist für die SPD überlebenswichtig, dass sie in die Opposition geht. Die Partei muss die Zeit für einen Neustart nutzen, kommentiert unser Berlin-Korrespondent Thomas Maron.

Berlin - Die deutsche Sozialdemokratie kämpft in den nächsten vier Jahren ums Überleben als Volkspartei. Nach dieser Schlappe dürfte dem letzten Genossen, der es sich in den 1990er Jahren bequem gemacht hat, klar geworden sein, dass mit einer solchen Haltung die Existenz dieser so stolzen, verdienstvollen Partei auf dem Spiel steht. Die SPD gibt Antworten, die außerhalb der eigenen Parteigrenzen nicht mehr ausreichend interessieren, die deshalb auch nur noch für rund 20 Prozent gut sind. Und keiner weiß, wie viele ihrer Wähler am Sonntag vielleicht ein allerletztes Mal den Genossen den Genossen eine Chance gegeben haben – aus Mitleid.

 

Der Absturz einer einst stolzen Partei

Die SPD kann sich dabei glücklich schätzen, dass es ihr noch nicht so ergangen ist, wie den sozialdemokratischen Geschwistern in Ländern wie Italien, Griechenland, oder Frankreich. Die Parti Socialiste in Frankreich, abgestürzt ins düstere Reich einstelliger Prozentzahlen, musste jüngst bekannt geben, aus Geldnot ihre Parteizentrale verhökern zu müssen. Weshalb sollte der SPD dieses Schicksal erspart bleiben, sollte sie so realitätsblind auf diese Niederlage reagieren wie in den Jahren 2009 und 2013?

Klar, man wird jetzt viel über den Wahlkampf schimpfen, und es ist ja auch was dran: Den Pleiten-Pech-und-Pannenpokal macht zum dritten Mal in Folge der SPD nun wirklich keiner ernsthaft streitig. Und ebenso richtig ist es, dass Sigmar Gabriel seinem Nachfolger Anfang des Jahres keinerlei programmatisch Vorarbeit sowie eine ausgezehrte, frustrierte Mannschaft hinterließ und mit seiner irrlichternden Kandidatenkür seinen Teil zur Niederlage beigetragen hat.

Die SPD ist in der Existenz bedroht

Aber verloren hat die SPD deshalb nicht. In ihrer Existenz ist sie bedroht, weil sie nicht mehr das Lebensgefühl vieler Menschen anspricht, weil sie ängstlich, zaghaft und beharrend die Ängstlichen, Zaghaften und Beharrenden umwirbt. Die fühlen sich aber, je nach kultureller Prägung, bei Union, Linken, AfD und mittlerweile mitunter auch bei den Grünen besser aufgehoben. Die Moderne ist schlicht über die SPD hinweggegangen. Bei den Diskussionsrunden der Funktionäre wird noch heute spätestens in der dritten Fragerunde „Hartz IV“ und die Agenda 2010 bejammert, statt sich, wie es sich für eine emanzipatorische Kraft gehören würde, der Gestaltung der Zukunft zu widmen.

Sie reiben sich an einer Reform wund, die auf den Weg gebracht wurde, als es noch kein Smartphone gab und Facebook-Gründer Mark Zuckerberg noch ein pickeliger Teenager war. Das Digitale, die Zukunft, wird in solchen Runden zu häufig nicht als gigantischer Ideengarten begriffen, in dem die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen, sondern als gefährliche Wildnis beschrieben, verbunden mit der Forderung, dieses fremde, ferne Land mit den Regularien des vergangenen Jahrtausends zu kolonialisieren. So als könne man dem Internet die Dauer der Zigarettenpausen diktieren. „Mit uns zieht die neue Zeit“ – von wegen. Nicht allein die nackten Zahlen stellen deshalb den Anspruch der SPD, Volkspartei zu sein, in Frage. Es ist vor allem ihre schwindende Fähigkeit, in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Interesse zu wecken.

Der nette Mann aus Würselen

Noch heute rätseln viele Genossen, wie denn der zwischenzeitliche Schulz-Hype im Frühling zu erklären sei. Dabei ist die Antwort simpel. Schulz wurde anfangs nicht nur als Alternative zur Kanzlerin Angela Merkel wahrgenommen. Mit ihm keimte auch kurzzeitig die Hoffnung auf eine andere, eine moderne SPD. Eine, die vielleicht das Zeug dazu hat, mit dem Europäer Schulz an der Spitze zur europäischen politischen Avantgarde aufzusteigen. Der Kandidat aber verzwergte sich erst selbst zum netten Mann aus Würselen und ließ sich dann von der Partei regelrecht aufsaugen. Er tat alles, um den eigenen Leuten zu gefallen und vergaß, dass die Genossen allen Nicht-Parteimitgliedern dummerweise nicht die Wahlzettel ausfüllen. Je mehr Schulz vom eigenen Anhang gefeiert wurde, desto gleichgültiger wurde er jenen, die Wahlen in der Mitte der Gesellschaft entscheiden.

Die Partei muss sich radikal erneuern

Deshalb muss die SPD sich jetzt radikal inhaltlich und personell erneuern. Sie muss in die Opposition, kein Zweifel, sonst riskiert sie ihren Untergang. Aber es wird dort nicht reichen, grantig und mit der Aura des schlechten Verlierers die Kanzlerin anzublaffen, wie es Martin Schulz in der so genannten Elefantenrunde am Sonntagabend tat. Es reicht auch nicht, wie es jetzt so oft heißt, jünger und weiblicher werden. Die Programmpartei braucht dringend eine neue Programmierung und muss deshalb auch den vielen jungen Menschen, die im Frühjahr eingetreten sind, schleunigst die Übernahme von Verantwortung anbieten, damit die SPD endlich wieder den Kopf wendet und den Blick mutig, gut gelaunt und optimistisch nach vorne richtet.

Vor allem muss sie endlich eine überzeugende Idee davon entwickeln, wie soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik hierzulande gleichermaßen organisiert werden können in einer Welt, in der Nationen nicht mehr allein in der Lage sind, technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in der Balance zu halten, sozial und weltoffen zugleich. Das ist viel verlangt, sicher. Aber das ist nicht weniger und nicht mehr als der Anspruch, mit dem die SPD ihren historischen Siegeszug begonnen hat. Gibt sie diesen auf, gibt sie sich auf.

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