Viele Leichtathleten haben während der Corona-Pandemie auf ungewöhnliche Art und Weise trainiert – nun wollen sie bei der DM in Braunschweig zeigen, was sie drauf haben. Kann das gut gehen?

Braunschweig - „Zeiten ändern sich, Träume bleiben“: Hindernisläuferin Elena Burkard trägt ihre Lebensmotto derzeit auf einer Gesichtsmaske, die mit der weiß-roten Japan-Flagge unterlegt ist. Die Olympischen Spiele in Tokio sind genauso abgesagt worden wie die EM in Paris – die Zeiten und Ziele haben sich auch bei den Leichtathleten verändert. Ihre Träume nicht. In der Corona-Krise bewegen sie sich in einer Geisterwelt. Ohne Zuschauer, auf ungewohnten Pfaden, mit strengen Verhaltensregeln. Und trotzdem geben die Deutschen Meisterschaften an diesem Wochenende in Braunschweig Hoffnung auf ein Stückchen Normalität.

 

Trotz allem gute Leistungen?

„Die sportlichen Leistungen werden auch unter den veränderten Rahmenbedingungen hochklassig sein“, prophezeit zum Beispiel DLV-Generaldirektor Idriss Gonschinska. Der erste große Wettkampf in Corona-Zeiten verspricht in der Tat ein hohes Niveau, obwohl einige Stützen der Vergangenheit wie Christina Schwanitz (Schulter-OP), Gregor Traber (Knieprobleme), Thomas Röhler (Vaterfreuden) oder Cindy Roleder (Schwangerschaft) nicht antreten werden.

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Die zweimalige deutsche Meisterin Jackie Baumann (LAV Tübingen) zum Beispiel präsentiert sich derzeit über 400 Meter Hürden so stark wie nie, sie rannte zuletzt in Papendal (Niederlande) in 55,49 Sekunden eine neue persönliche Bestzeit und war dabei so schnell wie seit zehn Jahren keine Deutsche mehr. Baumann trainierte in Corona-Zeiten viel allein im Wald, richtete daheim im Wohnzimmer einen Kraftraum ein. „Kooperation statt Konkurrenz“ hieß bei den Hürdenläuferinnen in der Krisenzeit zudem die Devise. Es war schon mehr als ungewöhnlich, dass die drei DM-Siegerinnen der letzten Jahre, Carolina Krafzik (VfL Sindelfingen), Djamila Böhm (ART Düsseldorf) und Jackie Baumann, spontan zu einem Testrennen in Sindelfingen gegeneinander angetreten sind. Gilt das Ergebnis von dort als Maßstab, dann ist Baumann nun für die Titelkämpfe in Braunschweig die Favoritin.

Ungewöhnliche Rennen gegen die interne Konkurrenz

In Leipzig durfte sich Mittelstrecklerin Hanna Klein (LAV Tübingen) als nationale Doppelmeisterin über 1500 und 3000 Meter in der Halle feiern lassen, jetzt sind ihre Gefühle vor der Nach-Corona-Saison ambivalent. „Ich freue mich sehr, dass es doch noch richtige Wettkämpfe gibt, bin aber auch traurig, dass sie ohne Publikum stattfinden“, sagt die 27-jährige Psychologiestudentin. Klein profitierte in der Krise vom Prinzip der „Time Trials“ – Wettkämpfe im Training, die Isabelle Baumann aus den USA mitgebracht hat. Neben Catherina Granz (Berlin) ist Klein Titelanwärterin über 1500 Meter.

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Auch der Sindelfinger Kugelstoßer Simon Bayer ist ein Mann der ungewohnten Wege. Im Vorjahr sorgte er im Berliner Olympiastadion mit zwei Salti rückwärts aus dem Stand neben dem Ring für Furore, nachdem er gegen David Storl seinen ersten DM-Titel gewonnen hatte. In Corona-Zeiten zeigte sich der 24-Jährige ebenfalls sehr kreativ. Er richtete sich im Wohnzimmer einen Kraftraum ein, trainierte vor der Garage im Hof Bewegungsabläufe und stieß die Kugeln von Asphaltwegen in einen Acker. „In jeder Krise steckt auch eine Chance“, sagt der Student für IT-Sicherheit, der sich vom amerikanischen Ex-Hallen-Weltmeister Ryan Whiting betreuen lässt. Die Titelverteidigung gegen den wiedererstarkten Ex-Weltmeister David Storl wird jedoch schwer.

Kienbaum statt Laichingen

Langstreckenläuferin Alina Reh hat sich während der Pandemie so lange wie noch nie zuvor von ihrem Heimatort Laichingen auf der Schwäbischen Alb entfernt. Die 23-Jährige war acht Wochen bei Bundestrainer André Höhne im Bundesleistungszentrum in Kienbaum (bei Berlin). „Ich habe den Tapetenwechsel genossen. Es fühlte sich gut an, dauernd einen Trainer bei sich zu haben“, sagt Reh. Mit immerhin 163 Kilometern wöchentlich im Schnitt hat sie einen langen Anlauf in Richtung Braunschweig genommen. Weil Superstar Konstanze Klosterhalfen dort nicht antritt, wäre alles andere als Rehs zweiter nationaler Titel über 5000 Meter nach 2015 eine Überraschung. Fraglich ist, ob sie die 15-Minuten-Barriere (Bestzeit 15:04,10), die sie seit langem anpeilt, diesmal knacken kann.

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Für Elena Burkard ist das Überwinden von Hindernissen eine Lebensaufgabe, nicht nur auf der Laufbahn. Sie hat während des Corona-Lockdowns fast normal durchtrainiert, im Schwarzwald oder an ihrem Studienort Tübingen, ist vermehrt aufs Mountainbike umgestiegen. Viele Läufe hat sie auf Wiesenboden auf einem Segelflugplatz im Schwarzwald statt auf einer Kunststoffbahn absolviert. Gefehlt haben ihr das übliche Frühjahrs-Trainingslager in Italien und die sozialen Kontakte durch die Corona-Einschränkungen. Sehr früh im Juni ist Elena Burkard mit ihrem Trainer Jack Müller in die Schweiz zu ersten Wettkämpfen gereist. Dort hat die zweifache deutsche Crossmeisterin auch ihre starke Form unter Beweis gestellt. „Ich fahre nach Braunschweig, um die 3000 Meter Hindernis zu gewinnen“, sagt Burkhard selbstbewusst. Dies ist eine echte Kampfansage – schließlich trifft sie dort auf die WM-Dritte Gesa Felicitas Krause. Ob sich die Zeiten tatsächlich geändert haben?