Der Japaner Hirokazu Koreeda gewinnt die Goldene Palme, und auch Spike Lee sowie Nadine Labaki nehmen verdiente Preise mit nach Hause. Doch #MeToo und der Kampf um Gleichberechtigung bleiben aber auch zum Ende des Festivals die dominierenden Themen.

Cannes - Nach zwölf Festivaltagen, an denen mehr denn je über Veränderungen und Neuanfänge diskutiert wurde, hat es die Wettbewerbsjury in der Hand gehabt, ein symbolisches Zeichen zu setzen, als sie vergangenen Samstag zum Abschluss der 71. Internationalen Filmfestspiele in Cannes ihre Preise vergab. Schon zu Beginn des Festivals allerdings hatte Cate Blanchett, die in diesem Jahr die neunköpfige Jury leitete, die Devise ausgegeben, dass man sich nicht von politischen Botschaften, sondern einzig der Qualität der Filme leiten lassen werde. Und so ging die Goldene Palme weder an eine Frau noch erstmals an einen dunkelhäutigen Regisseur, sondern an den Japaner Hirokazu Kore-Eda für seinen Film „Shoplifters“.

 

Falsch ist diese Entscheidung keinesfalls, im Gegenteil: Der Film des Japaners, der zum fünften Mal im Wettbewerb von Cannes vertreten war und 2013 bereits den Preis der Jury gewonnen hatte, gehörte ohne Frage zu den besten, die es an der Croisette in diesem Jahr zu sehen gab. Auf gewohnt ruhige, geradezu zarte Weise erzählt er in „Shoplifters“ von einer Patchworkfamilie, deren genaue Beschaffenheit sich erst im Laufe des Films wirklich offenbart. Sie lebt auf engstem Raum zusammen und kämpft am Rande der Gesellschaft nicht zuletzt mit Ladendiebstählen ums Überleben. Ein kleines, tief zu Herzen gehendes Meisterwerk, das wie so viele Filme im diesjährigen Wettbewerb – von Asghar Farhadis Eröffnungsfilm „Everybody knows“ bis zum „Ash is purest white“ des Chinesen Jia Zhangke – im Blick aufs Private nebenbei auch gesellschaftspolitische Missstände miterzählt.

Spike Lees humorvoll-bittere Ku-Klux- Klan-Geschichte „BlacKkKlansman“, der sicherlich am offensivsten politische Film im Wettbewerb, bekam den Großen Preis der Jury, während Nadine Labaki für „Capharnaüm“, einen berührenden Blick auf das Schicksal von Kindern und illegalen Einwanderern im Libanon, den Jury-Preis erhielt. Beide Werke hätten zweifellos auch die Goldene Palme verdient, doch insgesamt dürften die Entscheidungen von Blanchett und ihren Mitstreitern zu den überzeugendsten der letzten Jahre gehören.

Fulminante Rede von Asia Argento

Denn auch an den anderen Auszeichnungen gab es nichts auszusetzen, weder am Regiepreis für Pawel Pawlikowski („Cold War“) noch an den Darstellerpreisen für den Italiener Marcello Fonte („Dogman“) und die Kirgisin Samal Yesyamoya („Ayak“). Den Drehbuchpreis teilten sich Alice Rohrwacher für „Lazzaro felice“ und der Iraner Jafar Panahi für „Three Faces“, wodurch immerhin zwei der lediglich drei im Wettbewerb vertretenen Regisseurinnen geehrt wurden – und auch einer der beiden in der Heimat festgesetzten Filmemacher, mit denen die Jury explizit ihre Solidarität bekundete. Nur ob es unbedingt eine eigens geschaffene Goldene Spezialpalme für den experimentell-essayistischen Collagen-Film „Le livre d’image“ der Kino-Legende Jean-Luc Godard geben musste, sei dahingestellt. Auch wenn er, wie Blanchett sagte, „das Kino immer wieder neu definiert“.

Daran, dass es in Cannes in diesem Jahr nicht nur um Filme ging und sich das Festival nicht den Umbrüchen verschließen kann, die die gesamte Branche erfasst haben, erinnerte bei der Preisverleihung am Samstagabend ein Auftritt der Schauspielerin Asia Argento. Sie stand auf der Bühne, um den Darstellerinnenpreis zu überreichen – und nutzte das offene Mikrofon für eine Rede, die den Saal verstummen ließ. „1997 wurde ich in Cannes von Harvey Weinstein vergewaltigt. Ich war 21 Jahre alt. Dieses Festival war sein Jagdrevier. Ich möchte eine Vorhersage machen: Man wird Harvey Weinstein hier niemals wieder willkommen heißen“, sagte die Italienerin, deren Vorwürfe der Hollywoodproduzent bestreitet. „Sogar heute Abend sitzen in eurer Mitte diejenigen, die man noch immer nicht für ihr Verhalten gegenüber Frauen zur Verantwortung gezogen hat, für ihr widerwärtiges Verhalten, das in dieser Branche keinen Platz hat. In keiner Branche, an keinem Arbeitsplatz. Ihr wisst, wer ihr seid. Aber, wichtiger als das: Wir wissen, wer ihr seid. Und wir werden nicht zulassen, dass ihr noch länger damit davonkommt.“

Es gibt keinen Weg zurück

Nach eher symbolischen Akten wie dem Auftritt der 82 Filmemacherinnen, die auf dem roten Teppich dagegen protestierten, dass in Cannes kaum Filme von weiblichen Regisseuren zu sehen sind, oder den sechzehn schwarzen französischen Schauspielerinnen, die an gleicher Stelle ein Zeichen gegen Diskriminierung setzten, führte Argentos Auftritt noch einmal eindrücklich vor Augen, dass auch das wichtigste Filmfestival endlich konkrete Initiativen ergreifen muss, um mehr für Gleichberechtigung und gegen Belästigung, Missbrauch und Unterdrückung zu tun. Eine Hotline, bei der Übergriffigkeiten gemeldet werden können, wie sie dieses Jahr eingeführt wurde, reicht nicht.

Immerhin, auf Druck der Initiative #TimesUp und ihres französischen Pendants #5050x2020 unterzeichnete der Festivalleiter Thierry Fremeaux letzte Woche eine Erklärung, mit der sich die Filmfestspiele verpflichten, künftig für eine stärkere Frauenvertretung zu sorgen und transparent zu machen, wer in Cannes im Auswahlgremium sitzt. „Wir werden uns engagieren“, gab er zu Protokoll. Jetzt hat er ein Jahr Zeit, um tatsächlich Veränderungen auf den Weg zu bringen.