Immer mehr Menschen in Deutschland engagieren sich ehrenamtlich. Trotzdem haben die Vereine zu kämpfen. Es fehlt an Freiwilligen, die sich die Vorstandsposten aufhalsen wollen. Doch ohne Leitwolf läuft der gute Wille eines wachsenden Rudels ins Leere. Die Folgen wünscht sich keiner.

Stuttgart - Am Rande einer Wohnsiedlung, zwischen Hochhäusern aus Beton, liegt die Jugendfarm in Leinfelden-Echterdingen. Das unbeschwerte Kindergelächter dient als verlässlicher Wegweiser zu diesem Idyll am Rande der Kleinstadt. Doch der schöne Schein trügt. Es ist noch nicht allzu lange her, da hingen pechschwarze Wolken über dem Paradies. Die Jugendfarm war fast am Ende. Denn: Keiner wollte der Kopf der Bewegung sein und sich die Vorstandsarbeit aufhalsen. Kurz vor knapp hat sich doch jemand erbarmt, die Jugendfarm ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Bis zur nächsten Wahl?

 

Endzeitstimmung gehört inzwischen zum Vereinsleben wie die Wimpel. Für die Theatergruppe „Die Eulen“ aus Filderstadt fiel dieses Jahr der letzte Vorhang; der Aktivspielplatz in Steinenbronn stand mit einem Fuß im Nichts; die Kocheltern an der Grundschule in Steinenbronn bangen noch; der Obst- und Gartenbauverein Plieningen musste lange ohne Vorsitzenden auskommen; der Händlerverein Birkach Aktiv schlug 2012 Alarm. Die Liste ist längst nicht komplett, die Klage stets dieselbe. Aber ist das Jammern überhaupt angebracht?

Leitwölfe dringend gesucht

Die Statistik erzählt auf den ersten Blick eine andere Geschichte. Vor zwei Jahren opferten sich in Deutschland rund 15 Millionen Menschen im Sinne der Allgemeinheit auf. Und es werden jedes Jahr mehr. Die steigende Zahl der Ruheständler macht sich bemerkbar. Wer aus dem Arbeitsleben scheidet, werkelt heute in der Regel ehrenamtlich weiter. Doch der Fisch stinkt vom Kopf her in den Vereinen. Immer weniger wollen sich Jobs wie Schatzmeister oder Schriftführer antun, den Vorsitz gleich dreimal nicht. Ohne Leitwolf läuft der gute Wille eines wachsenden Rudels ins Leere.

Den Württembergischen Sportbund, einen Dachverband, erreichen immer wieder Hilferufe von der Basis. Und selbst wenn die Vereine mit Ach und Krach einen Rädelsführer ergattern, ist der Posten nach einer Amtszeit oft wieder vakant. Haben sich die Menschen schon immer vor dieser Form der Verantwortung geziert?

Früher war alles besser?

Das Ehrenamt, von dem die Rede ist, ist hierzulande 200 Jahre alt. Im 19. Jahrhundert wollte Vater Staat seine Vorherrschaft sichern und hat den Bürgern mehr Mitsprache und Gestaltungsspielraum zugestanden. Damit sie nicht aufbegehren wie ihre französischen Nachbarn. Das war die Geburtsstunde vieler Vereine. Die Menschen, damals vor allem Dorfbewohner, rotteten sich zusammen und schufen Strukturen, die teils bis heute überlebt haben. Anfangs war die Selbstbestimmung neu und deshalb sicher spannend. Sie brachte Abwechslung in ein Leben zwischen Acker und Stube. Mit den Jahrzehnten wurde die Vereinsmitgliedschaft zum Selbstläufer. Trug der Vater eine Feuerwehrkluft, wurde sie dem Sohn in die Wiege gelegt.

Und heute? Heute gelten diese ungeschriebenen Gesetze nicht mehr. Heute sehnt man sich nach Unabhängigkeit, in den Regalen der Buchhandlungen machen Ratgeber Hoffnung auf ein Leben voller Freiheit und Selbstbestimmung. Am besten hält man sich alle Optionen offen. Lieber auch noch hinter der übernächsten Ecke schauen, ob da etwas viel Besseres wartet. Wir bestellen Kleider übers Internet und schicken sie kostenlos wieder retour. Früher sind Pärchen miteinander gegangen, heute turteln Frauen und Männer in unverbindlichen Nicht-Beziehungen. Früher waren Lebensläufe mit nur einem Arbeitgeber Standard, heute glaubt kaum mehr einer, dass er seinen Job bis zur Rente behält. Heute platzen die Städte aus allen Nähten, Dörfer verkümmern. Wer auf dem Land ausharrt oder dort günstigen Baugrund gefunden hat, der lässt tagtäglich beim Pendeln viel Zeit auf der Straße liegen.

Na und, dann ist das halt so

Die Zeit ist schneller geworden – und irgendwie weniger. Der Chef erwartet auch um 22 Uhr noch eine Antwort auf seine E-Mail, die Kinder müssen zum Tischtennis, Ballett und Flöten, die Oma drängelt auf den nächsten Besuch, der Wäschekorb ist voll, der Kühlschrank leer. Wenn die Getriebenen diesen tagtäglichen Wahnsinn irgendwann einmal abgearbeitet haben, ist Zeit fürs Ich – oder für die Couch. Wir schaffen es mit Müh’ und Not, die Verantwortung fürs eigene Leben zu tragen.

Dann ist das halt so! Der Tag hat nur 24 Stunden, und Menschen kommen trotzdem zusammen, sei es in digitalen Netzwerken, sei es beim Rudelgucken in Fußballsommern, sei es bei der Geburtstagsfete. Doch es gibt leider einen Haken. Denn so gerät aus dem Blick, worin Vereine besser sind als Facebook, Großbildleinwände und der Mädelsabend.

Nicht betreten wegschauen – hinten anstellen!

In Vereinen treffen Rentner auf Kinder, Arme auf Reiche, Chefs auf Hilfsarbeiter. Man begegnet Menschen, neben denen man ansonsten nur zufällig in der U-Bahn hocken würde. Vereine sind der soziale Kitt in einer Welt der Ichbezogenen. Ein Klebstoff, der sogar glücklich machen soll. Der Befund einer neuen Studie des Staatlichen Instituts für Volksgesundheit in Dänemark legt dies fürs Ehrenamt nahe. Wer schon einmal Applaus für einen Bühnenauftritt bekommen oder ein legendäres Fest mit auf die Beine gestellt hat, dem schwillt sicherlich selbst bei der Erinnerung noch die Brust. Wenn der Einzelne stolz ist, Teil des Ganzen zu sein. Weil etwas entstanden ist, was es vorher nicht gab.

An Hilfsbereitschaft mangelt es auch im Jahr 2018 nicht. Nur genügt es nicht, wenn alle nur mitmachen wollen. Es braucht treibende Kräfte, es braucht die, bei denen die Fäden zusammenlaufen, die Visionen entwerfen. Mal ehrlich: Steckt darin nicht die Riesenchance zur Selbstverwirklichung? Mitreden heißt gestalten. Der Einfluss darauf, sich die Welt ein bisschen so zu machen, wie sie einem gefällt, wächst. Die Alternative ist, sich fremdsteuern zu lassen, nur zu konsumieren und sich in der Sicherheit zu wiegen, dass sich schon jemand anderes kümmern wird. Wenn wir uns da mal nicht verschätzen! Die Folgen wünscht sich keiner: Kinder essen in der Schule nur kalte Brote, am Bett von Todkranken sitzt kein ehrenamtlicher Sterbebegleiter mehr, bei Hochwasser hilft niemand, den Keller leer zu pumpen, bei Autounfällen rücken weniger Helfer an, und Jugendfarmen sind verblassende Erinnerung aus fröhlichen Kindheitstagen. Statt bei der Wahl zum Elternbeirat in der Schule betreten auf den Boden zu schauen, wäre das der richtige Zeitpunkt, zu fragen: Wo bitte ist das Ende der Schlange, in der ich mich anstellen kann?