Sie helfen gegen Heimweh, Herzschmerz und Hunger: Vesperbrote sind ein schlichtes Glück, ein so wirksamer wie einfacher Trost. Über die Renaissance der Stulle im Großstadtalltag.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Es gibt kaum etwas Spießigeres als die muffige Tupperdose im Schulranzen, das staubtrockene Abendessen am Familientisch mit Butter, Schwarzwälder Schinken, Roggenmischbrot, Jagdwurst und sauren Gürkle. Der Spätpubertierende, der das Elternhaus nach dem Abi verlässt, schwört, alles in sich hinein zu stopfen, nur eines nicht: das Abendbrot.

 

Es gilt als typisch deutsch. Von dem Komikerduo Katz und Goldt gibt es ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich muss noch Brote schmieren.“ Und seit einigen Jahren ist der Spruch des Nachkriegs-Kabarettisten Wolfgang Neuss ein beliebter Aufdruck von Vesperbrettchen in Bingo-Bongo-Läden: „Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut’ mach ich mir Gedanken.“

Ja, es ist eine Hassliebe, die die Deutschen mit den Butterbroten verbindet. Die Jungen wollen verzweifelt jenen holzvertäfelten Esszimmern entkommen, in denen die Silberzwiebeln speckig in Schälchen glänzen. Doch genau das hat auch einen soliden Charme: Das Butterbrot ist ein so wirksamer wie einfacher Trost. Kurz fühlt sich alles so an, als sei die Welt noch in Ordnung. Als klopfe die Mutter beim Griff zur Süßigkeitenschublade auf die Finger und sage, man solle lieber „was Gscheits“ essen. Ein Brot eben. Das hilft gegen Heimweh, Herzschmerz und Hunger.

Die Renaissance der Stulle

So betrachtet, verwundert es kaum, dass die gute, alte belegte Stulle bei vielen Großstädtern gerade eine Renaissance erlebt. Hipster tragen ja auch Vollbärte wie die Großväter, sitzen auf Retro-Sesseln aus den 60er-Jahren. Warum also nicht ein Vesperbrot in der Mittagspause? In Stuttgart hat Anfang Mai das Brot und Butter im Manufactum an der Lautenschlagerstraße eröffnet. Die Betreiber haben moderne Holzmöbel aufgestellt und setzen hier auf ganz Ursprüngliches: Brot aus dem hauseigenen Steinofen, Nudeln, Gebäck, Essig und Öl, Gewürze, schonend eingekochte Marmeladen und Konfitüren, Konserviertes, Wein und Spirituosen, Kaffees und Tees aus kleinen Röstereien, nachhaltig angebaut, Käse und Milch aus der Region und Wurst von alten Nutztierrassen. Und: hier wird selbst gebacken.

Michael Hohoff, Geschäftsführer aller sieben Filialen von Brot und Butter in Deutschland, erklärt: „Für unsere Waren haben wir kleine, regionale Lieferanten. Wir bekommen das Bier und die Milch aus der Nähe.“ In Stuttgart wurde die siebte Filiale eröffnet, in anderen Städten wie München oder Düsseldorf funktioniert das Konzept schon lange.

In Stuttgart wartete Michael Hohoff lange darauf, bis der neue Vorbau am Manufactum fertig wurde. „Wir wären gerne schon früher nach Stuttgart gekommen.“ Natürlich haben diese regionalen Produkte auch ihren – doch recht stolzen – Preis. Viele sind aber offenbar bereit, den zu zahlen. Der Unterschied zu den günstigeren, Mayonnaise-getränkten Retorten-Brötchen bei vielen Bäckerketten ist spürbar groß. Der Trend zum belegten Brötchen bedeutet nämlich: richtig gutes Brot und frische, regionale Beläge.

Kann es helfen, ein Butterbrot zu essen?

Mit einem ähnlichen Konzept sind Cornelia Wehrmann und ihr Mann in der Epicerie in der Olgastraße erfolgreich. Das original Holzofenbaguette können sich Gäste hier mit allem belegen lassen, was es gerade im Laden gibt. Das sind hochwertige Beläge: meist normannische oder bretonische Butter, Ziegen-, Hart-, Rohmilch- oder Weichkäse, Paté und Salami aus der Ardèche und frischer Salat.

Auch die Stuttgarter Kette „San’s“ setzt neben Suppen und Salaten auf solide belegte Brötchen. Dabei darf ein Klassiker nicht fehlen: das Schinken-Käse-Brot. San’s gibt es in Stuttgart schon seit 1998. Die Kette möchte ihren Gästen „gesundes Fast Food anbieten“ – ohne Geschmacksverstärker oder Konservierungsstoffe. Das entspricht dem Zeitgeist.

Ist die Welt so unüberschaubar geworden, dass es hilft, ein Butterbrot dagegen anzuessen? Das wäre was: ein normales Vesper im Kreise der Familie als Lösung aller Probleme. Doch da gehen Wunsch und Realität oft auseinander, glaubt Michael Hohoff. Und deshalb ist der Trend zur geschmierten Stulle wohl vor allem eines: Nostalgie. Hohoff schwärmt: „Es gibt nichts Schöneres als eine Scheibe gutes Brot, frische Rohmilchbutter und etwas Salz.“ Eine Scheibe schlichtes Glück eben.

Wo gibt es sie noch, die leckeren Brötchen?

Ursprung
: Derzeit wird das belegte Brötchen in Großstädten wie New York oder Berlin abgefeiert. Einen Teil dazu beigetragen haben Pastrami-Sandwiches, das sind Brote mit dünnem Rindfleisch belegt. In Berlin werden diese etwa im Deli Mogg & Melzer in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule serviert.

Bezug:
Pastrami-Sandwiches gibt es in Stuttgart zum Beispiel bei Martha’s im Königsbau am Schlossplatz.

Belegtes:
Sehr gute belegte Brote gibt es außerdem in der Espressobar Herbertz, Immenhofer Straße 13, S-Süd. ivo