Menschenrechte, Demokratie, Ausgleich der Interessen, globale Zusammenarbeit, Vielfalt der Kulturen: die Ideen und Werte des Westens sind nicht mehr selbstverständlich. Alte und neue Feinde formieren sich. Zum Beispiel: der Nationalismus.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Der Wind hat sich gedreht. Während es noch vor wenigen Jahren außenpolitischer Komment der meisten Staatsführer war, international agieren zu wollen, im Konzert der Völker und Nationen mitzuwirken, im Rahmen der Möglichkeiten ein konstruktiver Partner zu sein, sich einzufügen in eine Völkerfamilie, die gemeinsame Werte und Ziele anstrebt, tummeln sich nun allenthalben die Staatenlenker, die in erster Linie die Interessen ihrer Nation zum Ideal erheben. Internationale Kooperation war gestern, nationaler Stolz bestimmt das Heute.

 

Wladimir Putin preist das Russische, Recep Tayyip Erdogan das Türkische, beide werden getragen in ihren Ländern von starker Zustimmung in der Bevölkerung. Selbstbewusst kündigen die Autokraten einst gemachte Vereinbarungen oder verstoßen gegen internationale Rechtsregeln, wenn sie den Verstoß im Interesse ihrer Nationen sehen. Dass Russland zur Strafe für die Krim-Besetzung nicht mehr beim Staatsführer-Treffen G 8 dabei sein darf, stört Putin so wenig wie Erdogan die Aussicht, die Chancen auf den Beitritt zur Europäischen Union verspielt zu haben.

Doch auch innerhalb der EU gewinnen strikt national orientierte politische Konzepte an Bedeutung. Die Mehrheit der Briten hat sich bei der Brexit-Abstimmung von der Behauptung überzeugen lassen, ohne europäische Partner ihre Zukunft besser gestalten zu können. Die Regierungen in Polen und Ungarn reizen aus, wie weit sie im nationalen Rahmen Staat und Gesellschaft in ihrem rechtskonservativen Sinn umbauen können, ohne dass ihnen die EU, von deren Zuwendungen sie wirtschaftlich abhängig sind, allzu sehr in die Parade fährt.

Die Botschaft von „America first“

Den derzeit aktivsten und zweifellos mächtigsten neuen Nationalisten erleben wir derweil in Washington. Präsident Donald Trump hat bekanntlich das „America first!“ zum Credo seiner Präsidentschaft erklärt. Sein Austritt aus dem Pariser Klimaschutzabkommen ist in jüngerer Zeit das stärkste und brüskierendste politische Zeichen gegen den Geist internationaler Zusammenarbeit gewesen: Immerhin hatten sich in diesem Pakt alle Teile der Vereinten Nationen zu gemeinsamen Zielen verpflichtet – vielleicht in unzureichendem Maße, aber doch offenbar im alle verbindenden Bewusstsein, dass es bestimmte Probleme und Aufgaben gibt, die nur gemeinsam zu bewältigen sind, zum Beispiel der Schutz des Weltklimas. Trump hat gezeigt, dass er ein solches Bewusstsein für Quatsch hält. Für ihn gibt es Probleme und Lösungen nur im nationalen Rahmen; alle anderen Probleme sind jedenfalls nicht seine Probleme.

Es war einer von Trumps Vorgängern, der US-Präsident Woodrow Wilson, der 1917 angesichts der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und Millionen von Opfern die Idee formulierte, künftig müsse es einen Ort geben, an dem die Staaten nach Ausgleich und friedlichen Lösungen ihrer Streitigkeiten suchen. So entstand 1920 der Völkerbund, an dessen Stelle nach dem Zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen mit der Erklärung allgemeiner Menschenrechte traten. Aus dem Nebeneinander der Staaten sollte ein Miteinander werden, eine Selbstverpflichtung der Nationen auf gemeinsame Werte und Regeln, die in der westlichen Tradition der Aufklärung und bürgerlichen Demokratie verwurzelt sind.

Über die Grenzen und das Scheitern dieser Konzepte internationaler Zusammenarbeit lassen sich zweifellos dicke Bücher schreiben. Die Zahl der Despoten und Tyrannen, die hier oder in anderen internationalen Bündnissen mehr oder weniger zum Schein nur mittaten, um doch nur eigene Interessen zu verfolgen, ist immens. Und die Sorge, dass in globalen Foren wie den G-20-Treffen nur die Großen an den Strippen ziehen und über Gebühr ihre Vorteile suchen, ist berechtigt.

Gibt es einen sanften Nationalismus?

Aber all das ändert nichts an der Wirkungsmacht der internationalen Idee. Abgesehen von der Abschreckungsmacht der Militärbündnisse in West und Ost war es nach 1945 eben die Idee der Europäischen Union, die auf unserem Kontinent ein Friedenskonzept ermöglichte, weil sie Schritt für Schritt an die Stelle des nationalen Wettbewerbs und Wettlaufs um Macht und Ressourcen das Prinzip des übernationalen Ausgleichs und der gemeinsamen Projekte setzte. Und allen anderslautenden Anschauungen zum Trotz spielen just die Kleinen im Rahmen dieser Union eine viel größere Rolle und haben viel größere Chancen auf Mitgestaltung, als sie es allein und isoliert im großen Kreis der Nationalstaaten je könnten.

Der neu erwachte Nationalismus ist aber keineswegs nur die Losung der twitternden Multimillionäre, der Populisten à la Putin und Erdogan oder der neuen Rechten in Ungarn oder Polen. Der Angriff auf die westlichen Werte kommt auch von links. In die Debatten zu den Folgen der Globalisierung, zum Beispiel beim Freihandelsabkommen mit Kanada, und in die entsprechende Protestkultur haben sich Töne gemischt, die generell Stimmung gegen internationale Abkommen machen.

Nationalismus ist unbelehrbar

Natürlich würden sich solche Positionen niemals selbst nationalistisch nennen. Vertreter der Linken, aber auch Sprecher der Gewerkschaften oder der Grünen sprechen lieber von „nationalen Werten und Interessen“, die gegen „internationale, multilaterale Gleichmacherei“ zu verteidigen seien. In Aufsätzen in Denker-Magazinen à la „Cicero“ oder „Merkur“ liest man Behauptungen, es gebe eine Renaissance „nationalen Denkens“, das aber anders als früher „aufgeklärt und gemäßigt“ zu Werke gehe und auch einem multilateralen Zentralismus erfolgreich den Garaus machen werde. Die neu erstarkten Nationalstaaten wären dann endlich wieder Herr im eigenen Haus, sicher in eigenen Grenzen und könnten mit ihren berechtigten Interessen auf dem diplomatischen Parkett zum bilateralen Ausgleich untereinander antreten.

Dieses Konzept eines Wettbewerbs der Nationen war just die Arbeitsgrundlage Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Jagd auf Ressourcen mündete damals im Großen Krieg von 1914 bis 1918. Die Gefahren des grassierenden neuen Nationalismus sind nicht minder erschreckend. Europa und der Westen haben guten Grund, gegen ein America, Russia, Turkey oder Hungary First die Perspektive universaler Menschenrechte und eines multinationalen Pragmatismus aufrecht zu erhalten. Egal, wie modern er sich gibt: Nationalismus wird stets in Chauvinismus und Gewalt münden. Er kann nicht anders. Er ist aus Prinzip unbelehrbar.