Die Rolling Stones sind zwar eigentlich zu alt für Sturm und Drang und zu reich für Revolutionen. In Stuttgart gibt sich die beste Rentnerband der Welt aber herrlich aufmüpfig und holt aus ihrem Repertoire alles heraus, was an Rebellion herauszuholen ist.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - Keith Richards und Ron Wood hauen sich wütend mit ihren Gitarren Riffs um die Ohren, Charlie Watts bearbeitet seine Trommeln etwas heftiger als sonst, Mick Jagger zappelt, zuckt und stolziert über die Bühne, wedelt mit den Armen herum, trotzt und fragt: Was bleibt einem armen Jungen schon anderes übrig, als in einer Rock'n'Roll-Band zu singen?

 

Mit „Street Fighting Man“ haben die Rolling Stones am Samstagabend vor 43 000 Zuschauern ihr Konzert in der Mercedes-Benz-Arena in Stuttgart eröffnet; mit einem Song also, der von der Palastrevolution träumt; einem Lied, das vor fünfzig Jahren zum Soundtrack der Antikriegsproteste, der Studentenrevolte wurde; einem Stück, das daran erinnert, dass Rock’n’Roll einst mehr war als nur Unterhaltungsmusik, für ein Aufbegehren stand. Der Song stammt aus dem Jahr 1968. Mick Jagger war damals 24 Jahre alt und genau die Sorte Junge, vor dem Eltern ihre Töchter warnten.

Von „Street Fighting Man“ bis „Satisfaction“

Inzwischen ist Jagger Urgroßvater, Sänger der besten Rentnerband der Welt, und weil er es mittlerweile bevorzugt, nachts besonders exklusiv zu schlafen, lässt er sich gleich nach dem Stuttgarter Konzert per Hubschrauber abholen. Doch obwohl Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ron Wood heute in den 70ern sind, zu alt für Sturm und Drang und zu reich für Revolutionen, geben sie sich in Stuttgart herrlich aufmüpfig, holen aus ihrem Repertoire alles heraus, was an Rebellion herauszuholen ist.

Das gilt für die quicklebendige Fassung von „Street Fighting Man“ ebenso wie für den unkaputtbaren Hit „(I can’t get no) Satisfaction“, mit dem der Auftritt nach zwei Stunden zu Ende geht. 1965 war Keith Richards die Idee für dieses Gitarrenriff gekommen, das er flugs auf seinem Kassettenrekorder aufgenommen und Mick Jagger vorspielt hatte, dem dazu die Textzeile „I can’t get no satisfaction“ einfiel. Daraus wurde einer der besten Songs aller Zeiten – ein wunderbares Lamento, das die Reizüberflutung und die Nimmersattmentalität der modernen Zeiten besser als jeder andere abbildet und nebenher die innere Unruhe, die der Kern der Rock'n'Roll-Revolte ist, knackig verpackt. Auch am Samstag in Stuttgart wieder.

Ron Wood als „Meister der Kehrwoche“

Ein Konzert, das mit einem Song aus dem Jahr 1968 beginnt und einem aus dem Jahr 1965 endet, könnte leicht zur faden Nostalgieparty werden. Das Erstaunliche an dieser Show, an dieser Band ist aber, dass nie die Gefahr besteht, das Konzert würde zum Altherrenabend, zur verquasten Oldieshow degenerieren. Dazu inszenieren die Stones mit ihrer Begleitband ihre Lieder viel zu ungestüm.

Nicht nur die sich gegen den Rhythmus stemmende Gitarrenmelodie aus „(I can’t get no) Satisfaction“ wirkt immer noch verblüffend frisch, sondern auch die Band selbst. Da ist der immerjunge Mick Jagger, der ununterbrochen über die Bühne stolziert, ein Zappelphilipp-Zampano, der gerne Sakkos in leuchtenden Farben trägt und Witze über die Mercedes-Benz-Arena („Wir haben hier dreimal gespielt und das Stadion hieß jedes Mal anders“), Stuttgart („Ich liebe diese Stadt, ich wünschte, ich wäre im Baugewerbe“) und seine Mitmusiker macht: Den Gitarristen Ron Wood zum Beispiel, der ein Solo nach dem anderen raushaut, stellt Jagger als den „Meister der Kehrwoche“ vor.

Kleiner Abstecher zu Dylans „Like a rolling Stone“

Das könnte zwar durchaus einen ernsten Hintergrund haben, denn wenn Knautschgesicht Keith Richards mal einen schlechten Tag erwischt, ist es in der Regel Woods Job, dafür zu sorgen, dass das nicht weiter auffällt, indem er schnell einspringt (hinterher aufwischt sozusagen). Doch diesmal hat Richards einen richtig guten Tag; nicht nur bei seinen beiden Gesangseinlagen – der Bluesballade „You got the Silver“ und dem Drogenentzugsrocker „Before they make me run“ –, sondern auch als Gitarrist in „It’s only Rock'n'Roll (but I like it)“ oder „Honky Tonk Women“. Und dann ist da noch der Schlagzeuger Charlie Watts, der mit dieser unaufdringlichen Lässigkeit, als ob ihn das alles gar nichts angehe, vor sich hintrommelt und zuverlässig wie immer ist.

Und so vertiefen sich die Stones auf der über 60 Meter breiten Bühne zwei Stunden lang in all das Material, das sich angesammelt hat, seit sich die Band im Jahr 1962 gründete, lassen kein Jahrzehnt ihrer langen Karriere aus. Die Konzertreise reicht von Beatnummern aus den 1960ern („Paint it black“, „Let’s spend the Night together“) über Powerrock aus den 1980ern („Start me up“) bis zum Blues vom Album „Blue & Lonesome“ aus dem Jahr 2016 (Jimmy Reeds „Ride ’em down“). Zwischendurch erlauben sie sich sogar einen Abstecher zu Bob Dylans „Like a rolling Stone“, und sie lassen in einer geradezu perfiden Konzertdramaturgie auf das von Disco, Soul und Leichtigkeit beseelte und mit zackigen Offbeats und Saxofonsentimentalität verzierte „Miss You“ eine knurrige Version des Blues-Ungetüms „Midnight Rambler“ folgen, das sich, von Jagger mit der Bluesharp heraufbeschworen, bösartig über die Bühne wälzt, mal schleicht, mal rast, mal flüstert, mal brüllt.

Am liebsten Songs aus den späten 1960er Jahren

Schon seit 1969 lehrt einem diese düstere Blues-Oper jedes Mal aufs Neue das Fürchten. Und irgendwie bleiben die Rolling Stones bei ihrer Songauswahl in Stuttgart immer wieder Ende der 1960er Jahre hängen, bescheren dem Publikum damit die intensivsten Momente: Beim opulenten „Sympathy for the Devil“, in dem Jagger in blutrot-qualmenden Kulissen den Teufel spielt. Beim wehmütigen „You can’t always get what you want“, das die Desillusion der Hippiebewegung vorwegnimmt, sich in Pragmatismus und eine Art Gospelgottesdienst flüchtet, bei dem sich Mick Jagger in den Gotthilf Fischer des Rock'n'Roll verwandelt und fordert: „Singt mit mir!“. Und natürlich bei „Jumpin’ Jack Flash“, dessen Riff auch nach 50 Jahren immer noch in der Lage ist, 43 000 Menschen auf einmal unter Strom setzen kann.