Alicia Kettle ist dick – und wird von den Schlanken rundum gedemütigt. In „Dietland“, neu im Streaming-Angebot von Amazon Prime, wehrt sich diese ungewöhnliche Serienheldin endlich. Sie trifft dabei sogar auf feministische Terrorhexen.

New York - Alicia Kettle ist übergewichtig. Und doch arbeitet sie in New York bei einem Hochglanzmagazin, das Schlankheitswahn verbreitet. Mit Toleranz und Offenheit hat das nichts zu tun. Alicia, die so überdurchschnittlich füllig ist, dass sie auf der Straße von Fremden verhöhnt wird, die aber gut und einfühlsam schreiben kann, wird als hässliches Geheimnis des Magazins fast schon im Keller versteckt. Sie verfasst jene Kummerkasten-Antwortbriefe an die Leserinnen, die unter dem Namen und Foto der gertenschlanken, eiskalten Chefredakteurin erscheinen.

 

Einerseits blickt die beim Streamingdienst Amazon Prime Video zu sehende Serie „Dietland“ also auf den alltäglichen Wahnsinn der Schönheitsbilder, Rollenmodelle, Trends und Moden. Andererseits trifft Realistisches auf dreist Übersteigertes: Eine Untergrundbewegung von Frauen, die sich als Hexen verkleiden, kämpft gegen die Machoherrschaft. Typen, die in unserer Wirklichkeit im Zug der Metoo-Debatte an den Medienpranger gestellt werden und vielleicht auch vor Gericht kommen, werden hier kurzerhand entführt und exekutiert.Grell, brutal, bösartig? Ja, „Dietland“ ist all das, aber wohldosiert. Zugleich nämlich geht diese Adaption eines Romans von Sarai Walker verblüffend sensibel, differenziert und ehrlich an Themen und Figuren heran.

Ekel und Verachtung

Dicksein ist hier weder Lachnummer noch Krankheit, aber auch keine souveräne Lebensentscheidung, die uns schön pädagogisch als individueller Lebensstil vorgeführt wird. Nein, Alicia Kettle leidet, aber nicht so sehr an den großen, wüsten Demütigungen. Viel eher an den leisen Reibereien, Distanzmomenten, Wegdreh-Augenblicken des Alltags. Und die werden hier sehr genau erfasst: die Momente, wenn durch Freundlichkeit Verachtung durchscheint, wenn ein beiläufiger Blick eine Spur von Ekel enthält, wenn die „Ich verhalte mich ganz normal“-Attitüde des Gegenüber dann doch als verkrampfter Versuch deutlich wird, zu kaschieren, dass man Alicia nicht als Alicia wahrnimmt, sondern irritiert oder peinlich berührt als Problemfall, als Mitleidsbedürftige.

Alicias Zuviel an Pfunden lässt die auf Schlankheitsideale Gepolten ringsum automatisch an jede Menge Zuwenig denken: zu wenig Liebe, zu wenig Sex, zu wenig Spaß am Leben überhaupt. In vielen Szenen balanciert die 37-jährige Schauspielerin Joy Nash ziemlich bewundernswert Alicias Reaktionen zwischen Scham, Schmerz und Wut aus. Nash setzt sich ja selbst der Kamera aus, zum Beispiel in Szenen beim Arzt, der Alicias nackten Körper vor sich bloß als schnellstens umzubauendes Unheil sieht.

Seltsame Geheimwelt

Nash führt das Schizophrene einer Frau vor, die ihren Spitznamen Plum, den man hier mit Pummel übersetzen muss, so akzeptiert, als sei der stets nur als Liebkosung gemeint. Und die doch weiß, dass die anderen auf sie herabschauen. Man darf staunen, wie lässig die Serie bislang diese glaubhaften Momente mit der Untergrundbewegung verknüpft.

Denn die bringt Elemente der Urban Fantasy. So wie in anderen Filmen und Serien von „Harry Potter“ über „Grimm“ und „True Blood“ bis hin zu „American Gods“ Zauberer, Vampire, Werwölfe, abgedankte antike Götter unentdeckt unter uns Menschen in Städten und Dörfern leben, so bauen hier feministische Terrorhexen ihre Geheimwelt auf.

Bitte unsichtbar

Die Afroamerikanerin Tamara Tunie spielt Julie Smith, die Leiterin der Untergrundbewegung, eine Meisterin der gespaltenen Zunge. Sie arbeitet wie Alicia für einen Medienapparat, der krankmachende Frauenideale verkauft, und plant doch dessen Zerstörung. So einfühlsam Julie um Alicia als Komplizin wirbt, so misstrauisch sollte man dieser Figur gegenüber von Anfang an sein. Tyrannisch schwört sie Helferinnen auf sich ein: „Ihr sollt sämtliche Autoritäten anzweifeln – außer meiner!“

Ein Detail am Rande: Joy Nash ist seit 18 Jahren Schauspielerin. Nur gelegentlich hat sie vor „Dietland“ kleine Nebenrollen bekommen. Als Sprecherin für Hörbuchproduktionen allerdings wartete ein Auftrag nach dem anderen auf sie. Wie die für ihre Chefin Briefe schreibende Alicia sollte Nash doch bitte ihr Talent entfalten, aber dabei unsichtbar bleiben.

Abrufbar bei Amazon Prime Video,
jeweils montags kommt eine neue Folge hinzu.