Die Solitude-Allee kennt jeder – vom Schloss aus, als schnurgerade Straße Richtung Ludwigsburg. Wer die 13 Kilometer lange Strecke entlangspaziert, hört Geschichten, die viele bewegen: Es geht um Staus und Integration, Polit-Filz und das Leben neben Deutschlands bekanntestem Gefängnis.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Nicht die Milchpreise, sondern den Dauerstau auf der Solitude-Allee, die an dieser Stelle heute Solitudestraße heißt, bezeichnet Thomas Renschler als sein größtes Problem. Morgens, abends und wenn es auf der Autobahn mal wieder gekracht hat, stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange von der Bergheimer Steige bis Weilimdorf – und der für Vorzugsmilch bekannte Landwirt samt Traktor mittendrin.

 

„Ich komme kaum zu meinen Feldern. Wenn sie den Engelbergtunnel sanieren, gibt das noch mehr Stau“, klagt der 60-Jährige. „Vor dreißig Jahren hat man noch die Kühe über die Straße getrieben. Heute undenkbar.“ Renschlers Hof ist älter als die Solitude, das Hauptgebäude trägt die Jahreszahl 1704. Dass seine Äcker verstreut in der Landschaft liegen, hat auch mit der schnurgerade über die Äcker gelegten Allee zu tun. Die Zersiedlung tat ihr Übriges.

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Die Solitude-Allee war einst ein baumbestandener herzöglicher Privatweg, heute ist sie zumindest im Stuttgarter Stadtbezirk Weilimdorf eine asphaltierte Durchgangsstraße. Unterhalb des Bergheimer Hofs, wo die Stadtbahn aus dem Untergrund kommt, steht das türkis gestrichene Jugendhaus. Draußen jagt ein Junge über die BMX-Strecke, drinnen versucht Martin Kapler gegen den Lärm der Jugendlichen anzukommen. „Das wichtigste Thema im Haus“, sagt der Sozialarbeiter, „sind die Gäste von nebenan.“ Vor einem Jahr wurden die Flüchtlingswohnheime errichtet. Erst kamen die Eltern – wegen des WLAN – ins Jugendhaus, dann die Kinder. Das warf die Frage auf, wie sich alte und neue Besucher miteinander arrangieren können. Die Antwort bislang: gar nicht.

Wie viel Integrationsleistung kann man von Jugendlichen erwarten, die selbst am Rande der Gesellschaft aufwachsen? Vor dem Jugendhaus hockt Bariş und sagt: „Kontakt mit denen haben wir kaum.“ Er meint weniger die Flüchtlinge, sondern die deutschstämmigen Jugendlichen im Ort. „Sie reden nicht viel mit uns.“ Martin Kapler und sein Team tun ihr Möglichstes, damit junge Leute wie Bari nicht in eine Parallelgesellschaft abdriften. 17 Jahre ist Bariş alt. In welchem Deutschland wird er einmal leben?

Oettingers Lieblingspizzeria

Weiter auf der Solitude-Allee, Hügel rauf, Hügel runter. Hinter der nächsten Kuppe sieht man zur Linken die Pizzeria Da Mario, die 1993 ungewollte Popularität erlangte. Damals wurde bekannt, dass der damalige Landesjustizminister Thomas Schäuble seinen Parteifreund Günther Oettinger, damals CDU-Fraktionschef im Landtag, über Mafia-Ermittlungen gegen Mario L. informiert hatte. Oettinger hatte regelmäßig in der Pizzeria seines Duzfreunds verkehrt und ihn mehrfach Fraktionsfeste ausrichten lassen. Mario L. wiederum spendete der CDU mehrere Tausend Mark.

Die Telefonzelle gegenüber, die auf Google Street View noch zu sehen ist, wurde inzwischen abgebaut. Von hier aus observierte das Landeskriminalamt die Pizzeria. Schließlich kam Mario L. in Italien vor Gericht, der Vorwurf lautete, er sei ein Mitglied der kalabrischen Mafia. „Er erhielt aber zum Erstaunen der Staatsanwälte einen Freispruch erster Klasse“, erinnert sich der Journalist Rainer Nübel, der den Fall damals bearbeitete.

Links freies Feld, rechts Freiheitsentzug

Man spaziert weiter, ehe die Solitude-Allee rabiat von der B 10 unterbrochen wird. Dahinter verläuft sie als Feldweg, ist ein autofreies Idyll – bis man vor der Mauer des Stammheimer Gefängnisses steht: links freies Feld, rechts Freiheitsentzug. Und das Bildungszentrum Justizvollzug.

Der Schulleiter Joachim Obergfell-Fuchs steht in einem der Klassenzimmer, wo im Blockunterricht Gefängniswärter ausgebildet werden. Die Schüler wohnen im Gebäude, Blick auf den Gefängnishof. „Irgendwann hört man die Schreie nicht mehr“, sagt Obergfell-Fuchs – die der Insassen und die von Angehörigen, die von der Solitude-Allee aus in Richtung JVA rufen. Aktuell leitet er den 227. Lehrgang des Bildungszentrums. Gefängniswärter ist auch anno 2016 ein krisensicherer Job.

Ehe die Solitude-Allee in einer Ludwigsburger Sackgasse endet, befindet sich links die letzte Station dieses 13 Kilometer langen Spaziergangs: das Zentrum der Islamischen Gemeinschaft. Um den einstigen Teppichmarkt im Gewerbegebiet musste die Gemeinde jahrelang kämpfen. „Man war es nicht gewohnt, dass eine Moschee in die Nähe kommt“, erzählt der Vorsitzende Hayrettin Dogan. „Eine Nachbarin hat gesagt, wir seien anders, wir hätten eine andere Kultur.“ Die Gemeinde sei froh, überhaupt ein Gebäude zu haben. Dass die Moschee auf der Website des Dachverbands Milli Görüs auftaucht, dem der Verfassungsschutz eine „antiwestliche Grundhaltung“ attestiert, will er nicht kommentieren. So eng sei die Verbindung zu Milli Görüs nicht. „Wir wollen hier nur unseren Glauben leben.“

Zum Abschied gibt Dogan einen Automatenkakao aus und will wissen, ob der Besucher Fragen zum Islam habe. Er müsse die beantworten, alles andere sei eine Sünde. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten begibt man sich nach draußen auf die Straße, die Herzog Carl Eugen vor 250 Jahren errichten ließ und die heute all das auf 13 Kilometern vereinigt, was die Region Stuttgart ausmacht.