Wie viele Stars engagiert sich Mesut Özil sozial. Doch nur wenige gehen darin auf wie der Fußball-Weltmeister. Ein Besuch an einer Londoner Schule.

Sport: Carlos Ubina (cu)

London - Isaac strahlt vor Glück. Er hatte ja nicht einmal geahnt, dass so etwas geschehen könnte. Schließlich hatte die Schulleitung nur erwähnt, dass hoher Besuch erwartet wird, und er, Isaac Atite, solle sich den Nachmittag freihalten. Mehr nicht. Und jetzt traut der 17-Jährige seinen Augen nicht. Tatsächlich kommt da einer seiner Sporthelden über den Pausenhof der Quintin Kynaston Academy geschlendert. Die Hände in den Anoraktaschen, lässige Jeans an den teuren Beinen und ein Lächeln im Gesicht.

 

Mesut Özil.

Aber nicht nur das. Der Fußballstar des FC Arsenal bringt auch noch Zeit und gute Laune mit. Außerdem hat der Weltmeister den Wunsch geäußert abseits aller Kameras und Mikrofone ein paar Minuten allein mit einigen Jugendlichen reden zu können. Wenigstens eine intime Viertelstunde soll es im Rahmen dieses Projektbesuchs im Norden Londons geben. Die Laureus-Stiftung hat das alles organisiert. Mit der üblichen Sorgfalt und der nötigen Sensibilität, aber eben auch mit immensem Aufwand.

Sicherheitskräfte sind rund um die Schule postiert. Die Stiftungsmitarbeiter und das Özil-Management versuchen einen weiteren Schutzring um den Westfalen mit türkischen Wurzeln zu ziehen. Nur: der oft so scheue Mesut Özil braucht das offenbar alles gar nicht. Er fühlt sich wohl, ist entspannt und lässt den vier Teenagern einen Augenblick Zeit, um laut zu träumen.

Özil als „Zweitlieblingsspieler“

An einem Steintisch sitzen sie. Plaudern, scherzen und fachsimplen, denn Isaac ist nicht nur ein glühender Arsenal-Fan, sondern ebenso ein aufstrebendes Talent. Zumindest findet er das selbst und will sich einige Ratschläge von seinem „Zweitlieblingsspieler“ holen. Das muss er Mesut Özil am Ende der Begegnung schon gestehen. „Meine Brüder haben mir geraten, mir einen Lieblingsspieler zu suchen, der meiner Spielweise ähnelt“, lacht Isaac.

Und? Hat ihm Mesut Özil mit einer Kopfbewegung signalisiert. „Paul Pogba“, sprudelt es aus dem Jugendlichen heraus, „ich habe ja nicht Mesut Özils Technik, sondern bin mehr ein athletischer Spieler.“ Daraufhin hat sein Gegenüber nur gegrinst. „Ich war ja selber mal Kind und erinnere mich noch gut, wie schön das war, wenn ich jemanden getroffen habe, zu dem ich aufschauen konnte, weil er schon etwas erreicht hatte. Deshalb habe ich vollstes Verständnis für die Kinder“, sagt Mesut Özil.

Zu seiner Schalker Jugendzeit war das noch, als er die königsblauen Profis bewunderte und sein Tag perfekt schien, wenn er den Bundesliga-Assen auf dem Trainingsgelände begegnete. Jetzt wird Mesut Özil selbst bewundert. Leuchtende Augen erwarten ihn auf den Fußballplätzen der Schule. Knapp 30 Mädchen und Jungen aller Hautfarben und aus allen Glaubensrichtungen haben schon angefangen zu trainieren. Ein so buntes Bild wie das Leben – und jetzt trabt der Promi auf das Feld.

Das Problem mit dem Vertrag

Ungefragt. Was den Kindern gefällt und die Organisatoren irritiert. Denn irgendwo in Özils Vertrag steht, dass er nur im Dienste des FC Arsenal Fußball spielen darf. Zu schwer wiegt das Verletzungsrisiko, und hinter den Kulissen hatte man sich schon gefragt, wie die Laureus-Strategen denn überhaupt schöne Bilder in die Welt transportieren könnten von diesem zweistündigen Treffen, das kürzlich stattfand. Denn letztlich geht es auch darum, Öffentlichkeit für dieses Projekt herzustellen.

„Urban Stars“, heißt es und soll Kinder aus sozialen Brennpunkten durch Sport fördern – und davon gibt es nicht nur in London genug. Mehr als 100 Millionen Euro hat Laureus schon gesammelt und weltweit 150 Projekte mit prominenten Paten initiiert. Seit einigen Monaten gehört Mesut Özil zu den Botschaftern der Wohltätigkeitsorganisation. Doch jenseits der werbewirksamen Auftritte hilft der Fußballer gerne auch im Verborgenen.

Während der WM 2014 in Brasilien hat es angefangen, als Mesut Özil und andere Nationalspieler Geld spendeten, um 23 Kindern mit Missbildungen Operationen zu ermöglichen. Vor der EM im Sommer verbrachte der 28-Jährige seinen Urlaub in Jordanien und besuchte das Flüchtlingscamp Zaatari an der Grenze zu Syrien. Mit seinem Kumpel Ilkay Gündogan ermöglichte er zwei Schülerinnen aus ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen ein Highschool-Jahr in den USA.

Vergleichsweise kleine Summen für die Jungs sind das – mit großer Bedeutung für die Betroffenen. Und jetzt hat Mesut Özil dieses Problemchen mit seinem Vertrag auf seine Art geregelt: Nicht viel reden, sondern einfach machen. Er passt Bälle zurück, er dribbelt, er jongliert in seinen ungebundenen Winterstiefeln und beweist dabei mehr Ballgefühl als mancher Kollege mit Kickschuhen. Doch Mesut Özil macht keine Schau daraus. Er weiß, dass die Kinder von der Sehnsucht getrieben sind, ein Lob, einen Pass oder auch nur einen Blick von ihm zu kriegen. Es geht um sie.

Erinnerungen an den „Affenkäfig“

„Definitiv ist mir der Umgang mit Kindern eine Herzensangelegenheit, ansonsten würde ich das nicht machen“, sagt Mesut Özil, bei dem immer Kindheitserinnerungen aufkommen, wenn er sich sozial engagiert. Seine unbeschwerten Stunden auf dem Bolzplatz in Gelsenkirchen-Bismarck. Sein Aufwachsen zwischen zwei Kulturen. Hier sein muslimischer Glaube und die türkischen Bräuche, da das Christentum und die deutschen Sitten – und beim Kicken im „Affenkäfig“, wie sie ihr Spielfeld wegen der Umzäunung nannten, alle vereint. Kroaten, Bosnier, Libanesen, Türken, Deutsche.

Das sind auch die verbalen Botschaften, die Mesut Özil übermittelt – ganz gleich ob auf Deutsch oder Englisch: „Grundsätzlich ist es wichtig, dass Kinder Spaß haben. Darüber hinaus sollen sie lernen, an sich zu glauben – und sie sollen auch lernen, hart zu arbeiten, wenn sie ein Ziel erreichen wollen.“ Kräftigere Worte wählt er nicht.

Aber nur weil einer leise spricht, bedeutet es nicht, dass er nichts zu sagen hat. „Manchmal ist es auch so, dass Kinder und Jugendliche nicht so sehr auf ihre Eltern hören wollen. Aber wenn sie Sätze über Selbstvertrauen, Fleiß und harte Arbeit von mir hören, ist es vielleicht etwas anderes. Ich hoffe, dass ihnen das hilft“, sagt der Sportler und berichtet, wie das so war im Hause Özil: Drei-Zimmer-Wohnung für eine sechsköpfige Familie. Seine Schwestern Nese und Duygu schliefen bei den Eltern, er teilte sich ein Zimmer mit seinem älteren Bruder Mutlu. Aber was heißt schon Zimmer? Der Raum war so winzig, dass sie zwei Matratzen übereinander auf ein Bett legen mussten. Nachts nahm sich der kleine Mesut dann seine Matratze, legte sie auf den Boden – und schlief.

Özil, der große Fußballzauberer, kann sich nun ein Leben voller Luxus leisten. Und wie das so ist in der Welt der Reichen und Schönen gibt es auch weniger schöne Begleitumstände: Mesut Özil ist in eine Steueraffäre aus seiner Zeit bei Real Madrid verstrickt. Kaum dazu angetan, ihm einen Heiligenschein zu verpassen, aber eben auch nicht, ihn zu verdammen.

Hinter Özils Rücken wird getuschelt

„Das ist für mich überhaupt kein Sprung – zwischen der Fußballwelt und der normalen Welt. Ich habe nach wie vor einen sehr engen Kontakt zu meiner Familie und Freunden von früher. Natürlich war es ein Traum von mir, im Fußball etwas zu erreichen, und natürlich verändert sich dadurch einiges. Aber die Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich nicht vergesse, woher ich komme.“ Häufig schaut er noch in der alten Heimat vorbei. Mit fast wehmütigem Blick auf den Bolzplatz. Weil nur wenig los ist. „Heute geht es ja um Handys, Computerspiele und Social-Media-Aktivitäten, zu meiner Zeit hast du alle Kinder draußen getroffen. Wir hatten kaum genügend Platz auf dem Feld, manchmal mussten wir eine Stunde warten, um kicken zu können.“

Seine neuen Schuhe hat sich Mesut Özil auf dem Aschebelag oft genug ruiniert. Die Mutter, eine Putzfrau, schimpfte, und der Vater, ein Bergarbeiter, hielt das Geld zusammen. So musste der junge Mesut schon früh erfahren, dass die bitteren Momente einen Menschen mehr prägen als die süßen. Als Junge schämte er sich manchmal wegen seiner kaputten Kickstiefel. Mit Klebeband hielt er sie zusammen. Irgendwie – und wusste doch, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Nicht in der eigenen Kabine, aber bei den Gegnern und deren Eltern. Doch dann kam das Spiel. 6:0 gewonnen. Sechs Özil-Tore, und er sagte zu sich: Wozu brauche ich neue Schuhe?

Es sind solche Geschichten, die auch die Kinder berühren. Denn plötzlich steht Mesut Özil nicht mehr über ihnen. Sondern der scheinbar Unerreichbare ist dann einer von ihnen, wie er da auf dem Ball sitzt und die Fragen beantwortet. Ein Bild, wie es sich der legendäre Laureus-Schirmherr Nelson Mandela vorstellte, als er sagte: „Der Sport hat die Kraft, die Welt zu verändern.“ Ein Bild voller Zuneigung.