Chorstunde im XXL-Format: Die Toten Hosen schmettern sich in der ausverkauften Schleyerhalle mit Schmackes durch Punk und Rock – einige wenige Grenzwertigkeiten inklusive.

Stuttgart - Sage noch einer, die heutige Jugend habe es nicht so mit dem Singen – es kommt nur auf die passenden Lieder an. Sind mal wieder die Toten Hosen in der Stadt, gibt es jedenfalls die vielleicht größte Chorveranstaltung zu erleben, die Stuttgart zu bieten hat. Zwölftausend Kehlen sind es am Samstagabend in der randvollen Schleyerhalle, die eindrucksvoll demonstrieren, was man hierzulande an geballtem Vokalzauber zu bieten hat.

 

Und es wird nicht nur laut, sondern auch viel gesungen an diesem Abend. Los geht’s bereits deutlich vor dem Anpfiff: Zu genretypischen, vom Band eingespielten Klassikern wie „Seven Nation Army“ bringt das Publikum schon mal seine Stimmbänder auf Betriebstemperatur und verkürzt sich die Wartezeit. Es dauert nämlich, bis sich Campino & Co. blicken lassen. Was damit zu tun haben könnte, dass der Band kurz vor ihrem Auftritt hinter der Bühne der Event of The Year-Award überreicht wird.

Und so entern die Düsseldorfer Punker erst gegen 21.10 Uhr die Bühne und starten ihre Show mit einem leicht sphärischen Intro und einem kernigen „Urknall“, Auftaktsong auch des aktuellen Albums „Laune der Natur“. Einen „dreckigen, lauten und sehr, sehr langen Abend“ verspricht anschließend Campino den Fans – und die Hosen liefern: Laut geht es zu während der weiteren rund hundertfünfzig Minuten und schön herzlich-herb. Rund dreißig Songs folgen bis deutlich nach 23.30 Uhr, und viele davon als schnelle, harte, kaum drei Minuten dauernde Rock-Quickies, die den Großteil von inzwischen 35 Karrierejahren abdecken.

Stage-Diving ersetzt den Laufsteg

Dargeboten wird das alles auf einer Bühne, die unterstützende Technikspielereien nicht nötig hat. Drei XXL-Videoscreens, eine standardmäßige Lichttechnik – mehr braucht es nicht für eine zünftige Sause. Und wenn Campino oder der Bassmann Andreas „Andi“ Meuser den Kontakt zum Publikum suchen, geschieht das nach wie ohne protzigen Laufsteg Richtung Halleninnenraum, sondern in standesgemäßer Manier per Stage-Diving mit einem Sprung von der Bühne.

Rasant getaktet geht es so durch gut abgehangene Ware wie „Bonnie & Clyde“ oder „Liebeslied“ sowie das bisweilen grenzwertige Kernrepertoire von „Laune der Natur“. Dessen Titelsong beispielsweise wartet mit einem Melodiefragment auf, das auch von den Leichtmatrosen der Folkloretruppe Santiano stammen könnte – Hauptsache, es lässt sich irgendwie darauf herumgrölen. Die Musik dazu funktioniert aber immerhin als kerniger Reggae-Rock. Ähnlich verhält es sich mit „Wannsee“: in der Studioversion eine zusammengekalauerte, leichtgewichtige Schaluppe, live immerhin eine ausgewachsene Dub-Rock-Fregatte – wenngleich die Berliner Kollegen Beatsteaks einen solchen Sound immer noch kompetenter spielen.

Zwischendrin: manch ungewohnter Ton. Hübsch altmodisch mit Partitur und Notenständer fiedelt sich da plötzlich ein Streichquartett durch Mozarts „Kleine Nachtmusik“ und den AC/DC-Gassenhauer „Highway to Hell“. Etwas kurz und unglücklich wird an diesem Abend freilich das Hosen-Frühwerk abgehandelt. „Liebesspieler“, „Reisefieber“ oder „Der Mord an Vickie Morgan“ bleiben komplett außen vor, und erst im Zugabenblock erinnert „Opel Gang“ an die Sturm-und-Drang-Zeiten um 1983.

Pathos und Punk – heute geht beides

Komplett daneben geht, ebenfalls mit Streicherbegleitung, „Sie warten nur auf dich“ von 1984, dessen stadiontauglicher Refrain geradezu verpufft. Überhaupt wirkt der Abend nicht immer dramaturgisch klug strukturiert. Auf das nachdenkliche Entfremdungsszenario „Alles passiert“ folgt, eher ungelenk eingebunden, die rustikale Russendisco-Polka „Mädchen aus Rottweil“, und das reguläre Set endet nach neunzig ersten Minuten mit „Hier kommt Alex“ so unvermittelt, dass die Band ihre Show fast ein wenig abwürgt. Doch mit „Alles aus Liebe“ und Trinkliedern wie „Eisgekühlter Bommerlunder“ und „Zehn kleine Jägermeister“ jagen die Jungs von der Opel Gang den Motor für rund eine weitere Stunde nochmals voll auf Touren.

„An Tagen wie diesen“ („ein Song, der eine Eigendynamik entwickelt hat, die wir nicht mehr kontrollieren können“, wie Campino fast entschuldigend erklärt) bringt schließlich jenes Pathos ins Spiel, das man lange Jahre sympathischerweise umschifft hat. Aber vielleicht ist es inzwischen gar nicht so verkehrt, derlei Töne nicht nur Leuten zu überlassen, die sie für die falschen Zwecke missbrauchen. Mit „You’ll never walk alone“ scheint die Show dann zu Ende zu sein, ehe „Bis zum bitteren Ende“ eine weitere, erkennbar außerplanmäßige Nachspielzeit folgt: euphorisch gefeierter Schlussakkord eines Konzert, das deutlich hörbar macht, wie sehr sich das musikalische Spektrum der Toten Hosen ausdifferenziert hat – und ihr Lebensgefühl gleich dazu. Punk ist für Hosen heute mehr denn je nicht nur ein Genre nach dem Motto „alle Regler nach rechts“, sondern eine Lizenz auch für Pathos oder leicht hölzerne Durchhalteparolen Marke „Steh auf, wenn du am Boden bist“. So lange diese Zutaten so wie in der Schleyerhalle in homöopathischen Dosen serviert werden: nichts dagegen zu sagen.