Etwa 40 Kormorane brüten in den Wernauer Baggerseen. Der fotografische Blick durch das Spektiv zeigt einen Vogel, der sein Nest bewacht.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Wernau - Durch das Fernrohr des Vogelschützers Roland Appl sieht man sie: Wie große schwarze Früchte kleben die Vögel in den Weiden. Rund 40 Kormorane brüten im Naturschutzgebiet Wernauer Baggerseen, die Kolonie ist die größte weit und breit.

 

Bis zum Jahr 1968 wurde hier noch Kies geschürft, eine Betonmischanlage lieferte Transportbeton aus, und die Firma Daimler ließ Last- und Personenwagen über Kieswege fahren, um sie zu testen. Auf den Förderschiffen drehten sich die Bänder, um Kies abzubauen, den der Neckar während der Eiszeit geschaffen hatte. Aber 1968 war Schluss mit der Baggerei. Da war das Gelände zwischen Wernau und dem Plochinger Kopf schon zu einer einzigen Seenlandschaft geworden, an deren Rand sich die Bahnlinie erstreckte.

Geblieben ist die Seenlandschaft

Neben der Seenlandschaft ist aber auch die Daimler-Teststrecke bis heute geblieben. Gegenwärtig umfasst das Naturschutzgebiet Werner Baggerseen, dessen erster Bereich 1979 ausgewiesen wurde, rund 45 Hektar, und bald könnten noch weitere acht Hektar dazukommen. Der Naturschutzbund (Nabu) hat von Daimler die Zusage, dass der Testbetrieb 2020 eingestellt wird. Schrittweise will der Autobauer seine Versuchsfahrten nach Immendingen bei Tuttlingen verlagern, wo das Unternehmen auf rund 500 Hektar seine Fahrzeuge erprobt. „Ein großer Teil der Testfahrten ist bereits vom Areal in Wernau auf das Prüfgelände in Immendingen verlegt worden. So finden die sogenannten Schlechtweg-Erprobungen des Dauertestlaufs schon komplett in Immendingen statt. Ziel ist, dass langfristig keine Erprobungen mehr in Wernau stattfinden“, sagt ein Firmensprecher.

Seltene Tiere siedelten sich an

Der Vogelschützer Roland Appl hatte 1978 schon geholfen, Unterschriften zu sammeln, damit die Seenlandschaft unter Schutz gestellt würde. Damals ein revolutionärer Schritt, denn es konnte sich niemand vorstellen, dass sich mitten in einer vom Menschen zerfurchten Industrielandschaft seltene Tiere ansiedeln würden. Und doch war es so. Von den etwa 400 in Deutschland lebenden Vogelarten wurden rund 200 bei den Wernauer Baggerseen gesichtet; und das, obwohl die Badenden dort ihr Freizeitvergnügen hatten und das Mischwerk Betonbrühe einleitete.

Damals kamen 15 000 Unterschriften für das Naturschutzgebiet zusammen, das ein Jahr später, 1979, in seiner Kernzone gegründet wurde. 1981 und 1992 wurde es erweitert. Zugute kam dem Projekt der Zeitgeist, weil sich erstmals in Deutschland eine grüne Protestbewegung formierte, aus der später die grüne Partei wurde. Kein Geringerer als der Tierfilmer und Oscar-Preisträger Bernhard Grzimek hatte seine Unterschrift und ein Geleitwort auf dem exklusiv gestaltetem Werbefaltblatt hinterlassen. „Bedenken Sie“, schrieb er 1978, „dass die Naturschützer nicht für sich selbst arbeiten, sondern für Sie und Ihre Enkelkinder.“

Die Argumente der Vogelschützer waren gewichtig. Nicht nur Kormorane wurden damals wie heute gesehen, sondern auch Eisvögel und sogar Fischadler. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Natur an den Wernauer Baggerseen üppig entwickelt. Stelzvögel wie die Zwergrohrdommel stehen im flachen Wasser, um einen Fisch zu ergattern. Am nahe gelegenen Neckarufer tummeln sich Graugänse. Zuletzt hat ein weiterer seltener Gast seine Burg im See aufgeschlagen: Der Biber ist wieder heimisch geworden.

Ein Naturlehrpfad ist am Rand

Besucher dürfen nicht hinein, sie können den Naturlehrpfad am Rand benutzen und in den Aussichtsbuchten die Vögel mit dem Fernglas beobachten. Besonders die Bodenbrüter würden durch den Menschen gestört, sagt Appl. Neben den Naturschützern darf noch ein Schäfer ins Gebiet, der eine Ziegenherde und eine Schafherde weiden lässt. Die Tiere lassen die Vogelnester in Ruhe und verhindern, dass sich die Fläche bewaldet. Damit schaffen sie einen Lebensraum für etliche Insekten, von denen wieder die Vögel leben.

Für Armin Elbl, den Wernauer Bürgermeister, sind die Baggerseen, neben dem Naturschutzgebiet Lehmgrube, das der Schwäbische Albverein unterhält, das große ökologische Standbein der Stadt. Ohnehin trage Wernau viel zum Umweltschutz bei, sei es mit Fotovoltaikanlagen auf öffentlichen Gebäuden, sei es mit dem Ökostrom, den die Stadt beziehe.

Die Baggerseen sind aber noch mehr als eine Oase in der Industrielandschaft Mittlerer Neckarraum. Sie sind das Herzstück der Idee, die Neckarufer zu renaturieren und einen Biotopverbund zu schaffen, der den Mittleren Neckarraum von Wendlingen bis Ludwigsburg miteinander verbindet. Das ist noch ein weiter Weg, zu dem aber bereits viele Gemeinden ihren Beitrag geleistet haben – wie Esslingen am Neckarfreibad oder Plochingen mit dem Gartenschaugelände.