Ein Wechselbad der Gefühle ist dieses Gespräch für sie. „Kein Problem“, sagt sie, als ihr kurz darauf die Tränen kommen. „Ich weiß das, ich habe vorhin etwas genommen.“ Viele fragen, ob die Zeit nicht allmählich die Wunden heile. „Nein, das hat sie nicht getan.“ Sie hat ihren Mann sehr geliebt, seine politischen Visionen von der Annäherung an Europa, von Demokratie und Marktwirtschaft immer unterstützt. „Es ist wie ein dumpfer Schmerz, der chronisch geworden ist“, sagt sie.

 

Andrej Sannikow, Oppositionsspitzenkandidat der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2010 und einstiger Weggefährte Gennadi Karpenkos, hat sich zum Todestag ihre Mannes im April bei ihr gemeldet. Das tut er jedes Jahr. „Aber in Esslingen denken mehr Menschen an ihn als in Belarus.“ Eine traurige Wahrheit für sie. Jedes Mal, wenn eine Gruppe aus Molodetschno kommt, spüre sie die Angst, mit der die Menschen aus der Esslinger Partnerstadt, ihr, der Witwe des ehemaligen Bürgermeisters, begegnen. Nur immer vorsichtig sein. Denn natürlich ist immer ein Spitzel des belarussischen Geheimdienstes KGB dabei, davon ist sie fest überzeugt.

Ludmilla Karpenko will erzählen. Sie ist froh, dass Fragen kommen, dass man sich noch an Gennadi erinnert. Es sind aufregende, schreckliche Geschichten. Momente, die sie nicht verwinden kann. Aber es sind auch immer die gleichen Geschichten. Die Worte, mit denen sie sie schildert, haben sich eingeschliffen. Dennoch, sie muss erzählt werden, die Geschichte des Tages, an dem ihr Mann starb.

Die Liste des Diktators

Als Ludmilla Karpenko am 31. März 1999 von der Arbeit in einer Bank nach Hause in ihre Minsker Wohnung kommt, wundert sie sich nicht, dass ihr Mann nicht da ist. Zwar hat Gennadi noch am Mittag angerufen und gesagt, er komme gegen 18 Uhr, aber er kann Verabredungen selten einhalten. Vielleicht dauert das Treffen mit der Journalistin länger, vielleicht ist er unterwegs wieder aufgehalten worden. „Ich hatte ein komisches Gefühl in der Herzgegend“, sagt sie heute. Damals tut sie das als Hirngespinst ab. Sie weiß nicht, was ihr Mann da schon lange wusste: Es gibt eine Liste des Diktators. Und Gennadi Karpenko, der aussichtsreiche, weil sehr beliebte oppositionelle Präsidentschaftskandidat, steht auf Platz eins.

Hätte Ludmilla Karpenko dem Lukaschenko-Regime gefährlich werden können? Sie guckt vom Bildschirm hoch, fast amüsiert. „Ich bin eine einfache Frau. Sehe ich gefährlich aus?“, fragt die 65-Jährige, die jünger wirkt in ihrer türkisfarbenen Bluse, dem dezenten Make-up, dem modernen Haarschnitt und ihrem offenen Blick. Wie solle denn jemand, der sich auf die rechtsstaatlichen Waffen beschränkt und mit Gesetzen argumentiert, einem Despoten gefährlich werden, fragt sie. „Und dennoch hatte Lukaschenko Angst vor mir.“

Als Beleg dafür schildert sie die Episode mit dem Denkmal. Als das Staatsoberhaupt eines Tages vor dem Haus, in dem Karpenko in Minsk wohnte, ein Denkmal einweihte, habe er ständig zum siebten Stock hochgeschaut. Dorthin, wo er sie hinter dem Fenster vermutete. Das berichteten Nachbarn später. Die Witwe selbst war zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause. Lukaschenko habe Polizisten vor ihrer Wohnung postieren lassen – ausschließlich vor ihrer Wohnung. „Er hatte Angst, dass ich versuche, ihn zu erschießen“, glaubt sie. „Er ist ein wahnsinniger Mensch.“ Aus Wut schickte sie ihm ein Paket mit einem Paar weißer Turnschuhe. Weiße Turnschuhe bringen den Tod, besagt ein belarussisches Sprichwort. Die Turnschuhgeschichte ging durch die Presse. „Sie ist noch viel gefährlicher als ihr Mann“, geiferte ein Kommentator im Fernsehen. „So ein Theater wegen einem Paar Turnschuhe“, Ludmilla Karpenko muss lachen.

Ein Wechselbad der Gefühle

Ein Wechselbad der Gefühle ist dieses Gespräch für sie. „Kein Problem“, sagt sie, als ihr kurz darauf die Tränen kommen. „Ich weiß das, ich habe vorhin etwas genommen.“ Viele fragen, ob die Zeit nicht allmählich die Wunden heile. „Nein, das hat sie nicht getan.“ Sie hat ihren Mann sehr geliebt, seine politischen Visionen von der Annäherung an Europa, von Demokratie und Marktwirtschaft immer unterstützt. „Es ist wie ein dumpfer Schmerz, der chronisch geworden ist“, sagt sie.

Andrej Sannikow, Oppositionsspitzenkandidat der belarussischen Präsidentschaftswahlen 2010 und einstiger Weggefährte Gennadi Karpenkos, hat sich zum Todestag ihre Mannes im April bei ihr gemeldet. Das tut er jedes Jahr. „Aber in Esslingen denken mehr Menschen an ihn als in Belarus.“ Eine traurige Wahrheit für sie. Jedes Mal, wenn eine Gruppe aus Molodetschno kommt, spüre sie die Angst, mit der die Menschen aus der Esslinger Partnerstadt, ihr, der Witwe des ehemaligen Bürgermeisters, begegnen. Nur immer vorsichtig sein. Denn natürlich ist immer ein Spitzel des belarussischen Geheimdienstes KGB dabei, davon ist sie fest überzeugt.

Ludmilla Karpenko will erzählen. Sie ist froh, dass Fragen kommen, dass man sich noch an Gennadi erinnert. Es sind aufregende, schreckliche Geschichten. Momente, die sie nicht verwinden kann. Aber es sind auch immer die gleichen Geschichten. Die Worte, mit denen sie sie schildert, haben sich eingeschliffen. Dennoch, sie muss erzählt werden, die Geschichte des Tages, an dem ihr Mann starb.

Die Liste des Diktators

Als Ludmilla Karpenko am 31. März 1999 von der Arbeit in einer Bank nach Hause in ihre Minsker Wohnung kommt, wundert sie sich nicht, dass ihr Mann nicht da ist. Zwar hat Gennadi noch am Mittag angerufen und gesagt, er komme gegen 18 Uhr, aber er kann Verabredungen selten einhalten. Vielleicht dauert das Treffen mit der Journalistin länger, vielleicht ist er unterwegs wieder aufgehalten worden. „Ich hatte ein komisches Gefühl in der Herzgegend“, sagt sie heute. Damals tut sie das als Hirngespinst ab. Sie weiß nicht, was ihr Mann da schon lange wusste: Es gibt eine Liste des Diktators. Und Gennadi Karpenko, der aussichtsreiche, weil sehr beliebte oppositionelle Präsidentschaftskandidat, steht auf Platz eins.

Später am Abend klingelt das Telefon. „Ihr Mann ist mit einem Hirnschlag ins Krankenhaus eingewiesen worden“, eröffnet ihr eine Männerstimme. Ludmilla Karpenko weiß sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. „Gennadi hatte keine Probleme mit der Durchblutung.“ Mit dem Taxi rast sie zum Krankenhaus, bekommt dort den nächsten Schrecken. Es ist kein richtiges Hospital, eher eine Notaufnahme. Ein junger, wenig erfahrener Arzt empfängt sie. „Nein, zu Ihrem Mann können Sie nicht“, ist das Einzige, was er ihr sagt. Sie wird wütend, besteht darauf, dass ihr Mann in ein größeres Krankenhaus verlegt wird. Auch dort darf sie vor der Operation nicht zu ihm. „Wollen Sie, dass ich ins Gefängnis komme?“, herrscht der diensthabende Arzt sie an. Erst nach der Operation, Gennadi Karpenko liegt im Koma, darf sie an sein Bett. Zu spät. Er wacht nicht mehr auf. Am 6. April 1999 stirbt er – und mit ihm der größte Trumpf derer, die sich ein Ende der Lukaschenko-Diktatur wünschen.

„Ich habe das Mädchen gefragt, das die beiden während des Treffens bedient hat: Gennadi hatte nur eine halbe Tasse Kaffee getrunken, als ihm schlecht wurde und er umkippte. Die Journalistin hat ihn einfach liegen gelassen und erst viel später den Notarzt gerufen“, sagt Ludmilla Karpenko. Auch dies habe jenes Mädchen berichtet. Sie ist eine der wenigen Zeugen jener Tage im April, die später überhaupt mit der Witwe reden. Kurz nach dem Tod lässt Lukaschenko verbreiten, die Familie habe nicht genug Geld für die Beerdigung – und er, der Präsident, habe das ritterliche Angebot gemacht einzuspringen. „Lächerlich!“ Ludmilla Karpenko spuckt das Wort aus.

Die Suche nach Beweisen

Beweise, dass es tatsächlich Mord war, sind kaum zu bekommen. In besonders schweren Momenten geht Ludmilla Karpenko zum Kleiderschrank, um ihren Mann noch einmal zu riechen, ihm nah zu sein. Immer wieder versucht sie, die Journalistin zu sehen, die ihn zum Treffen gebeten hatte. Immer lehnt diese ab. Bis Ludmilla Karpenko ihr eines Tages auf der Straße begegnet. „Was ist passiert“, fragt sie. Die Frau fragt zurück: „Träumen Sie von Ihrem Mann? Vermissen Sie Ihn?“ Sie habe neulich in einem Traum gesehen, wie Gennadi Karpenko seine Frau rufe. „Sie müssen zu ihm, Sie müssen ihm folgen“, sagt die Frau. Ludmilla Karpenko stockt der Atem. Wohin soll sie ihrem Mann denn folgen, wenn nicht auf den Friedhof? Ist das eine Aufforderung zum Selbstmord?

Seit drei Jahren lebt Ludmilla Karpenko in Esslingen. „Hier hört mich niemand ab, hier kann ich jederzeit ohne Angst auf die Straße gehen“, sagt sie. Sie ist den Esslinger Freunden und Bekannten grenzenlos dankbar. Im Sommer wird sie Deutsche werden. Den Einbürgerungstest mit den 300 Fragen hat sie bereits bestanden. Ihre Kinder haben sich gut integrieren können, haben studiert und leben nun mit ihren Familien in Frankfurt und Köln. Wann immer es geht, besucht Karpenko sie.

Ein gutes Ende? „Nun ja,“, sagt Ludmilla Karpenko. Sie zieht die Schultern hoch und lächelt unbestimmt. Ihre Kinder haben den Neuanfang besser meistern können als sie. Deutsch hat sie nie richtig gelernt. Das Land, dass sie im Moment höchster Not mit offenen Armen aufgenommen hat, ist ihr trotz allem fremd geblieben. Die Revolution in der Ukraine ist ihr viel näher als die deutsche Tagespolitik. Will sie nach Belarus zurück? „An dem Tag, an dem Lukaschenko stirbt, kaufe ich mir ein Flugticket“, sagt sie. Sie hat sich fest vorgenommen, ihren ärgsten Feind zu überleben.