Diedrich Diederichsen hat ein Buch "Über Pop-Musik" geschrieben. Um Musik geht es ihm dabei aber höchstens am Rande. Ob er am Donnerstagabend bei seiner Lesung in Stuttgart auch über Abba sprechen wird? 

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Pop-Musik, das muss man gleich mal festhalten, ist für Diedrich Diederichsen erst in zweiter Instanz: Musik. Diederichsen ist einer der wichtigsten deutschen Popkritiker und -theoretiker, einst Chefredakteur bei der Musikzeitschrift Spex. Heute ist er unter anderem Dozent an der Stuttgarter Merz-Akademie und am Donnerstagabend liest er im Theater Rampe, ebenfalls Stuttgart, aus seinem neuen Buch "Über Pop-Musik".

 

Pop-Musik, schreibt Diederichsen gleich in der Einführung, sei für ihn "nicht nur sehr viel mehr als Musik". Sondern eine Art Gesamtheit von sozialem Kontext, kultureller Praxis, Inszenierung in Wort und Bild, Performance, Fan-Kultur - etwas radikal Subjektives, das immer im Zusammenhang gedacht werden muss und erst im Auge des Betrachters entsteht. Harter Stoff.

Abba zum Beispiel

Wer bei "Pop-Musik" an Dudelfunk denkt, liegt bei Diederichsen also falsch. Abba zum Beispiel: Die schwedische Inkarnation des Schlager-Pop kommt bei Diederichsen schon vor, drei Mal wird die Band im Index aufgeführt. Diederichsen interessiert aber keineswegs, ob etwa "Dancing Queen" oder "Mamma Mia" gut geschriebene Pop-Songs sind. Diederichsen ordnet Abba vielmehr "in der Normalität einer hegemonialen Schlagerdominanz" ein, "die es in den 70ern mit Staatsfernsehen und einer stabilen Mainstreamkultur noch gab". Vor allem aber interessiert ihn, wie es Abba gelang, "den Null-Sound, eine durch kein Soundzeichen von der konventionellen Musikalität ablenkende Normalität, wieder erfolgreich einzuführen".

Null-Sound, das sitzt. Nicht nur gegenüber Benny Andersson und Björn Ulvaeus, also den männlichen Abba-Mitgliedern und Sound-Ingenieuren, denen Diederichsens Urteil angesichts fast 400 Millionen verkaufter Tonträger allerdings egal sein könnte. Die zitierte Passage aus Diederichsens Buch soll vor allem zeigen, von wem der Autor sich abwendet: von der Masse derer, die Pop-Musik nur als Musik hören. Die also die Melodie mögen, die Pop sozusagen instrumentell hören - als Stimmungsverstärker, -aufheller, -dämpfer.

Und Diedrich Diederichsen fährt fort, indem er dem britischen Musiksoziologen Simon Frith folgend eine Verbindung von Abba und der britischen Punk-Band Sex Pistols herstellt. Da wird "die reine, soundfreie, blöde Dur-Melodie" (also Abba) genommen und als Mittel zur Überwindung der "mittlerweile ihrerseits ideologisch gewordenen Rock-Musik" eingesetzt: gemeinsam vereint im Kampf gegen den verächtlichen Stadion-Rock, auch wenn Abba das vermutlich nie im Sinn gehabt haben.

Diederichsen entwirft damit sozusagen die intellektuelle Version der Haltung all jener Dschungelcamp-Zuschauer, die "Ich bin ein Star" natürlich nicht als Schaulustige einschalten, sondern aus einer ironischen Distanz heraus zusehen. Vielleicht kann man das ja auch als Kritik am verstaubten "Qualitätsfernsehen" in ARD und ZDF deuten? Ich bin so schlau, ich schau Doof-TV.

Gegenkultur, was sonst?

Aber zurück zu Diederichsens Buch. 458 Seiten, die über weite Strecken sperrig geschrieben sind, laden zu Abschweifungen ein, sind für Leser ohne kulturwissenschaftlichen Hintergrund oder zumindest ausgeprägtes Interesse an Kulturtheorie aber teilweise schlicht schwer verständlich. Nicht vergessen: Es geht in diesem Buch nur am Rande um Musik in dem Sinne, dass da jemand über das schreiben würde, was man konkret hört, wenn sich eine Platte im Player dreht.

Stattdessen wirbt Diederichsen für einen radikal subjektiven Zugang zur Musik - einen intellektuellen, wohlgemerkt. Der unbedarfte Abba-Fan, der wegen der schönen Melodien ins SI-Centrum geht, ist sozusagen Diederichsens Antipol.

Angenommen, Diedrich Diederichsen hätte Karten für das Abba-Musical und würde sich die Show tatsächlich ansehen: Er würde zur Vorbereitung wahrscheinlich nachlesen, wie gerade das aalglatte Pop-Star-Gehabe als subversives Element eingesetzt wurde; Diederichsen würde vielleicht recherchieren, wo die Wurzeln einer solchen Bühnenshow liegen (David Bowie läge viel zu nahe); und während des Musicals selbst stieße er in Meta-Metaebenen vor, vielleicht - frei erfundendes Beispiel - über das Konzept des Nordischen in der Entwicklung der eigentlich schwarzen Funk-Musik.

Keiner macht sich hier über den Buchautor lustig. Vielmehr soll die kleine Übertreibung illustrieren, dass Diederichsen sich in seiner speziellen Art, Pop(-Musik) zu rezipieren, verrannt hat. Man kann das alles so sehen wie dieser kundige, unglaublich belesene Autor, der seinen Teil dazu beigetragen hat, dass Pop von vielen ernsthaften Kulturmenschen nicht mehr abschätzig als U-Musik, also gewissermaßen als degenerierter Cousin der angeblich viel relevanteren E-Musik angesehen wird. Pop-Musik ist aber eben auch Abba, ist auch blöde Dur-Melodie, eben Popular Music - populäre Musik, was für die Massen. 

Alles ist Pop

Das gilt es zu kritisieren an Diedrich Diederichsens Buch: dass er damit das Phänomen "Pop-Musik" enger fasst, als sie eigentlich ist. Es ehrt ihn, dass er die Pop-Kultur grundsätzlich als "gegenkulturelle Avantgarde" zu einer "kulturindustriell geprägten nivellierten Massenkultur" definiert. Aber bedingt sich nicht beides gegenseitig? Braucht die Gegenkultur nicht die Massenkultur, um sich abzugrenzen? Und braucht nicht die Massenkultur die Gegenkultur als Inspiration?

Da ist man dann schnell beim Grundsätzlichen. Der Leser muss Diederichsen nicht zustimmen. Er wird ihn auch nicht immer verstehen. Aber dieses Buch, sofern man sich die Mühe macht, bietet Ansatzpunkte, weiterzudenken. Und das ist eine Leistung für sich.

Diedrich Diederichsen, Über Pop-Muik, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, 39,99 Euro. Lesung am Donnerstag, 3. April im Theater Rampe, Beginn 20 Uhr.