An der Berliner Volksbühne inszeniert Herbert Fritsch „Murmel, Murmel“ von Dieter Roth – ein Theaterstück, das mit nur einem Wort auskommt.

Berlin - Was ist da passiert? Wer ist da auf Droge? Wo kommen all die Gute-Laune-Pillen her, mit denen sich der Prenzlauer Berg inklusive Friedrichshain da zugedröhnt hat? Verwundert reibt man sich die Augen, wenn beim Schlussapplaus – auch er penibel durchinszeniert, fünfzehn Minuten lang, ein allerletztes Halligalli – das Ensemble in seinen kreischend bunten Ganzkörpertrikots an die Rampe tritt und einen Reggae singt. Das Publikum johlt und pfeift, klatscht und singt, es feiert die Spieler und sich selber und ist in seiner Ausgelassenheit gerade noch davon abzuhalten, eine Polonaise rund um den Rosa-Luxemburg-Platz zu tanzen. Denn dort, wo die Linke ihre Bundeszentrale hat, steht auch die Volksbühne von Frank Castorf. Einst war sie die Heimstatt des mürrischen Antikapitalismus, ein Hort der fiebrigen Revolution. Jetzt ist sie ein Ort der fröhlichen Regression. Was ist da passiert?

 

Passiert ist Folgendes: Herbert Fritsch ist zurückgekehrt an das Theater, an dem er zwanzig Jahre lang einer der prägenden Schauspieler war – ein Mann wie ein Springteufel, verwegen und übertourt, lustig und durchgeknallt. Jetzt aber ist er ein gefragter Regisseur, der den Umweg über die Provinz genommen hat, um die Hauptstadt abermals unerbittlich zu bespaßen. Mit Ibsens „Nora“ aus Oberhausen und Hauptmanns „Biberpelz“ aus Schwerin war er im vergangenen Jahr bereits zweimal beim Berliner Theatertreffen vertreten, dieses Jahr hat’s nur für eine Inszenierung gereicht, für die „Spanische Fliege“ von Arnold/Bach, einem grandios tollwütigen Schmieren-Comic, mit dem er im letzten Sommer auch seinen Regieeinstand an der Volksbühne gab. Und jetzt also sein zweiter Streich, „Murmel, Murmel“ von Dieter Roth, ein Stück mit eingeschränktem Wortschatz – und ein gefundenes Fressen für den sechzigjährigen Jungregisseur, der wie ein Hund nur eines will. Er will nur spielen.

Der Inhalt von „Murmel, Murmel“ ist schnell erzählt. Es gibt keinen. „Murmel“ besteht aus der endlosen Wiederholung des Titelworts: „murmel, murmel, murmel“ auf 176 gebräunten Seiten, die der Objektkünstler und Schriftsteller Dieter Roth 1974 als Buch herausgegeben hat. Er wollte ,,das langweiligste Theaterstück der Welt“ schreiben, sagte der 1998 verstorbene Allrounder. Und neidlos erkennen wir an: das ist ihm mit dem Einwortdrama mit null Personal und null szenischen Anweisungen gelungen. Zum Glück aber braucht ein Text, gerade ein blinder, immer noch einen Regisseur, der ihm den Weg zur Bühne weist – zum Glück für Fritsch, der sich von dem Nichtstück begeistert aus den Socken hauen ließ und daraus einen Karneval der Murmeltiere machte. Die langweiligste Inszenierung der Welt ist seine grelle Rampensau-Parade jedenfalls nicht.

Es geht zu wie bei einer Improshow

Ein untersetzter Herr quetscht sich an der ersten Zuschauerreihe vorbei und springt in den Orchestergraben. Seine Uniform weist ihn als Kreuzung aus Polizeiobermeister und Dorfkapellmeister aus, aber ein Meister ist dieser Ingo Günther auf jeden Fall: ein Großmeister des Marimbafons und anderer Schlaginstrumente, mit denen er das unaufhörliche Bühnenmurmeln begleitet. Als Musikmacher liefert er den Soundtrack, als Geräuschemacher die Synchronisation. Reckt ein Mann seinen Körper, lässt er es quietschen und knarren, als arbeite in den Gelenken eine rostige Sprungfeder. Und reibt sich eine Frau ihre Brustwarze, lässt er es rappeln und klappern, als sei sie eine zufriedene Mühle am lüsternen Bach – alberne Akustikspäße aus Stummfilmen, doch weil dazu „murmel, murmel, murmel“ zu hören ist, tausend- und abertausendmal, wähnen wir uns im Kreißsaal der Filmgeschichte.

Wir sehen und hören die stammelnde Geburt des Tonfilms aus dem Geist des Stummfilms. Vom Musikgroßmeister mit der Stoppuhr dirigiert, betritt der erste Spieler den roten Bühnenteppich. Er murmelt sich eine Politikerrede hin. Das einzige Wort, das ihm bekanntlich zur Verfügung steht, biegt er sich so zurecht, dass er damit Einklagen und Beschwören, Einfordern, Ermuntern und zu bedenken geben kann. Eine virtuose Sprechnummer mit Nullbotschaft, bevor der zweite Spieler kommt und daran scheitert, sich einen Hut aufzusetzen. Immer wieder hüpft ihm das Ding vom Haupt. Steif am ganzen Körper bleibt ihm nur, entweder in den Spagat zu gehen oder einen Handstand zu machen, um dann den Kopf in die auf dem Boden liegende Bedeckung zu drücken – und diese etwas andere Art der Kopfbedeckung ist eine Akrobatiknummer, die aus dem Zirkus kommt und von einer perfekten Nummernrevue aus Oper, Tragödie, Musical und Laufsteg et cetera abgelöst wird.

Es geht beim Murmel-Mantra zu wie bei einer Improshow: Ganz nach Belieben stürzen sich die elf Männer und Frauen mit ihrer unverwüstlichen Betonfrisur in alle denkbaren Genres und Spielweisen, Sprech- und Körperhaltungen. Ganz, wie es dem Publikum gefällt – was fehlt, ist allein der auffordernde Publikumszuruf.

Klar, dass er fehlt. Der auffordernde, aufmunternde Zuruf kam ja bei den Proben schon längst vom Regisseur selber: Fritsch zeigt in seinem komischen, sich jeglichem Sinn versperrenden Neodada, was er mit seiner Spielerelf alles entfesseln kann. Und das ist verschwenderisch viel, denn auf diegrau-schwarze Stummfilmphase folgt noch der bunt infantile Teletubbie-Teil. Das euphorisierte Ensemble hüpft, immer weiter murmelnd, murmelnd, murmelnd, mit Trikots und Tutus in allen Bonbonfarben über die Bühne, die ihrerseits mit Farben ja auch nicht gerade geizt. Rot und grün, blau und gelb schieben sich, brünftig aufheulend, quietschend ausgebremst, Wände herein und markieren den Spielraum: wunderbar kolorierte Passepartouts, die von Mondrian stammen könnten und doch von Fritsch selbst sind.

Auch das hübsche Bühnenbild hat er entworfen für diese Spaßorgie, in der er sich völlig von den Fesseln der Narration und Psychologie befreit. Man könnte auch sagen: er feiert einen Kindergeburtstag. Die Volksbühne jedenfalls könnte „Murmel“ ohne Altersbeschränkung auch nachmittags zeigen. Die Berliner Kitas würden die Aufführungen stürmen.

Vorstellungen heute, 7., 14., 22. und 29. April