Mehr Input, mehr Personal und ein neuer Spirit: In Sachen Digitalisierung geht in der Bundesregierung mehr, als die zuständige Staatsministerin Dorothee Bär den Ministerien zugetraut hat .

Berlin - Die Vergangenheit hat der Zukunft Platz gemacht. Der Saal gleich links vom Haupteingang des klassizistischen Baus in der Berliner Wilhelmstraße war viele Jahre der Sozialgeschichte gewidmet. Den Kämpfen der Arbeiterbewegung, den Meilensteinen Richtung Marktwirtschaft mit sozialer Ader. Die Ausstellung ist ins Netz gewandert – und der Raum von jenen in Beschlag genommen, die sich damit auskennen: kreative Couchecke, langer Holztisch mitten im Großraumbüro für Teambesprechungen, überdimensionales Flipchart mit bunten Stichwortzetteln vom letzten Brainstorming, Großbildschirme.

 

Stolz führt Björn Böhning, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium mit SPD-Parteibuch, durch seine „Denkfabrik“. So hat der 40-Jährige die neue Organisationseinheit getauft, „die auf den rasanten technischen Wandel auch schnell reagieren kann“. Zwölf Mitarbeiter bekamen den Auftrag, Trends in der Arbeitswelt nachzuspüren. Vorgegeben ist ihnen, dass sie besonderes Augenmerk auf Datenschutz, Weiterbildung, Automatisierung sowie die Internetplattformen legen – und nach einem Jahr der Bundesregierung Ratschläge geben. Wie sie das machen, ist ihnen überlassen.

„Wir reden nicht mehr nur über Digitalisierung, sondern schreiten zur Tat“

„Kommen jetzt die Hipster?“ Die Bedenken waren ziemlich groß, als Böhning die Idee vorstellte. Auf der ersten Versammlung machte sich der Personalrat ein wenig lustig, auf der zweiten lief es besser. Inzwischen gibt es im Ministerium eine Warteliste für die Mitarbeit in der „Denkfabrik“. Die Hälfte der Leute wurde neu von außen geholt.

Das Kanzleramt bildet keine Ausnahme. Auch dort schreitet die Digitalisierung der Bundesregierung voran. Das heißt nicht nur, dass Kabinettssitzungen papierlos ablaufen, die Minister Dokumente auf ihren Tablets finden und E-Akten auf dem Vormarsch sind, wenn es sich nicht gerade um supergeheime Papiere handelt. Bei all den Koalitionsquerelen und Wahlschlappen der Regierungsparteien haben fast nur interessierte Fachleute mitbekommen, was sich in den vergangenen Monaten getan hat. Das will das Kabinett am Mittwoch und Donnerstag mit konkreten Beschlüssen ändern. „Wir reden nicht mehr nur über Digitalisierung, sondern schreiten zur Tat“, sagt Dorothee Bär, die zuständige Staatsministerin im Kanzleramt: „Die Digitalklausur der Regierung ist ein weiterer Schritt auf dem Weg, die Digitalisierung nicht nur in Sonntagsreden zum Thema zu machen.“

Eine Testversion vom Bürgerportal ist schon online

Verabschiedet werden soll zum Beispiel eine Strategie, um richtig mit dem gewaltigen Potenzial Künstlicher Intelligenz umzugehen. „Für die KI-Strategie werden finanzielle Mittel benötigt, die die Bundesregierung auch in die Hand nehmen wird“, kündigt Böhning an. Die Zukunft soll zudem nicht irgendwann stattfinden, sondern mit festen Anfangszeiten versehen werden. So sollen über das Bürgerportal, dessen Testversion seit September online ist, bis 2022 schrittweise alle 115 Verwaltungsleistungen des Bundes online zu erledigen sein – wenn die Bundesländer mitspielen auch deren 460. „Wir werden einen Fahrplan beschließen, bis wann wir welche Vorhaben umsetzen wollen“, erklärt Bär: Dazu gehört etwa „5 mal 5G“ – in fünf Testregionen soll das neue mobile Hochgeschwindigkeitsnetz eingeführt werden.

Die CSU-Frau, die in den sozialen Netzwerken an ihrem Leben teilhaben lässt, Sport auf der Spielekonsole gerne als olympische Disziplin sähe und von Flugtaxis der Zukunft schwärmt, ist das Gesicht der digitalen Ambitionen. An diesem Tag Ende Oktober strahlt es nicht wie sonst auf ihren Instagram-Fotos. Die 40-Jährige schleppt sich zu ihrem nächsten Termin, am Tag darauf muss sie krank zu Hause bleiben. Es ist ein bisschen viel geworden in letzter Zeit, weil mehr geht in der Regierung, als Bär das den Ministerien zuerst zugetraut hat.

Der unberechtigte Ruf der analogen Ahnungslosen

„Mit vielen Häusern habe ich gemeinsam Veranstaltungen organisiert oder Vorhaben angeschoben – das habe ich mir anfangs schwieriger vorgestellt“, erzählt die dreifache Mutter. Ausgerechnet Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen war die Erste, die sich bei ihr meldete. Sie reißen sich in der Regierung geradezu darum, bei coolen Zukunftsprojekten das Sagen zu haben. „Bei jedem Thema streiten sich die Ministerien darüber, wer die Federführung bekommt“, sagt Bär: „Es gibt einen neuen digitalen Spirit in der Bundesregierung.“

Der kommt von oben. Von der Frau, die in Sachen Netzpolitik schon viel Spott hat einstecken müssen. „Das Internet ist für uns alle Neuland“, sagte Kanzlerin Angela Merkel noch vor fünf Jahren. Geschenkt, ob es damals, als manch einer schon zwei Jahrzehnte online war, naiv dahergesagt war oder eher bevorstehende digitale Umbrüche meinte – der Ruf der analogen Ahnungslosen hängt ihr bis heute nach. „Da steht sie mittlerweile total drüber“, heißt es in ihrem Stab. Merkels Ortswahl für die Digitalklausur lässt anderes vermuten. Das Kabinett trifft sich im nach SAP-Mitgründer Hasso Plattner benannten Institut der Uni Potsdam. Das könnte der Genugtuung geschuldet sein, dass dessen Direktor Christoph Meinel die Kanzlerin neulich rehabilitierte: Die Digitalisierung komme tatsächlich dem Versuch gleich, „einen neuen Kontinent zu entdecken“.

Merkel nimmt private Schulstunden in digitaler Fortbildung

Merkel kommt von ihren Reisen in alle Welt stets auch mit der wachsenden Sorge zurück, dass der digitale Pioniergeist anderswo ausgeprägter sein könnte. Im Frühsommer etwa hat sie in der chinesischen Start-up-Metropole Shenzhen ein Unternehmen namens „iCarbonX“ besucht und gesehen, wie persönliche Gesundheitsdaten fröhlich mit dem Arzt, dem Fitnessstudio oder dem Supermarkt für das passende Essen geteilt werden. „Das Tempo ist Wahnsinn“, ist es ihr danach entfahren. Kurz darauf soll sie angefangen haben, sich immer sonntags in einer Art privater Schulstunde digital fortzubilden.

Ihr Kanzleramt hat die Regierungschefin umgebaut. Kanzleramtschef Helge Braun koordiniert das Digitale, wirklich bezeichnend aber ist, dass Merkel ihre Vertraute Eva Christiansen zur Leiterin der neuen Abteilung „Politische Planung, Innovation, Digitalpolitik und strategische IT-Steuerung“ gemacht hat. Auch dort gibt es nun Mitarbeiter, die keine klassische Ministeriallaufbahn durchliefen. „Es war der ausdrückliche Wunsch der Kanzlerin, auch ungewöhnliche Experten von außen zu holen“, erinnert sich Bär: „Angela Merkel hat mir gesagt: Öffnen Sie das Haus! Holen Sie die Leute rein, die wir brauchen!‘“

Mehr Input, mehr Personal – das erhöht den Handlungsdruck

Zu denen gehört Chris Boos, der gern im T-Shirt zu offiziellen Anlässen erscheint. Der Gründer des Frankfurter Unternehmens Arago, das mit Künstlicher Intelligenz Geld verdient, ist nach eigenen Angaben „Nerd und Informatiker“, der „viel in Kellern rumgesessen“ und sich „von Bildschirmen umgeben“ hat. Nun sitzt der KI-Pionier im neuen Digitalrat der Regierung, dessen zehn Mitglieder im August ihre Arbeit aufgenommen haben und – so Merkels Wunsch – „uns antreiben, uns unbequeme Fragen stellen“ sollen. Zum Beispiel beim Ministerabendessen am Mittwoch.

Mehr Input, mehr Personal – das erhöht den Handlungsdruck, weil es in Sachen Digitalisierung ja schon lang nicht mehr ein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem gibt. Etwa bezüglich leistungsfähiger Datennetze, die Grundlage für eine erfolgreiche Digitalisierung sind und im aktuellen Koalitionsvertrag versprochen werden – wieder einmal. Der Unterschied im Regierungsapparat ist, dass die Chefin im eigenen Haus die Personalstärke des Referats für digitale Infrastruktur verdreifacht hat – und ihre Mitarbeiter dem Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur nun ständig auf den Füßen stehen. „Wir können das BMVI jetzt öfter nerven“, heißt es dort. Weil sich die Minister auch im Digitalkabinett treffen und die Digitalisierung damit endgültig Chefsache geworden ist, „weiß auch die Arbeitsebene, dass etwas passieren muss“.