Der Münchner Siemens-Konzern baut künftig verstärkt auf digitale Dienste, Industriesoftware und eine neue Internetplattform, die alles zusammenführt. Das soll dem Unternehmen einen weiteren Wachstumsschub bringen.

München - Auch das Internet der Dinge braucht ein eine Art Betriebssystem. Wenn es nach Siemens und seinem Technologiechef Roland Busch geht, heißt es Mindsphere. „Es ist eine offene Plattform für alle Industrien von Bahn- über Kraftwerksbetreiber bis zum produzierenden Gewerbe“, schwärmt er beim Technologietag der Münchner. Mindsphere ist eine Siemens-Innovation und aktuell einer der größten Hoffnungsträger im Haus. Denn die digitale Revolution unter dem Schlagwort Industrie 4.0 ist nicht nur ein globaler Datensammelkrake. Sie braucht auch eine Ebene, wo die riesigen Datenmengen zusammenfließen und analysiert werden können. Die stellt Siemens nun in Form von Mindsphere in die globale Datenwolke. Dabei kennen die Bayern keine Berührungsängste.

 

Auf Mindsphere kooperieren sie mit Softwareriesen wie SAP und Microsoft oder auch IBM und verknüpfen die Cloud-Plattform mit dessen Datenanalyseservice Watson. Mindsphere ist zusammen mit Software und digitalen Diensten die Basis für das stark wachsende Siemens-Digitalgeschäft, stellt Busch klar. 3,3 Milliarden Euro haben die Münchner im abgelaufenen Geschäftsjahr 2015/16 mit Industriesoftware umgesetzt, eine weitere Milliarde Euro mit digitalen Diensten wie Fernwartung von Windrädern. Gemessen an den 17 Milliarden Euro Umsatz mit klassischen Servicegeschäften oder gar den jährlichen Gesamterlösen von 80 Milliarden Euro wirkt das noch putzig. Die Wachstumsraten sind es nicht.

Digitalgeschäfte sind überproportional profitabel

Siemens-Digitalgeschäfte wuchsen 2015/16 mit zwölf Prozent. Das ist die Hälfte über dem Marktwachstum. Siemens gewinnt also Marktanteile und das im alles überstrahlenden Zukunftsgeschäft mit der Industrie 4.0. Bis 2020 sollen die digitalen Wachstumsraten zweistellig bleiben, kündigte Busch an. Digitalgeschäfte seien auch überproportional profitabel. Eine genaue Quote blieb der Technologiechef der Münchner schuldig. Mindsphere hält er für das Rückgrat des künftigen Digitalwachstums, das Siemens zum global führenden Zulieferer der Industrie 4.0 machen soll. Denn auf Basis dieser Plattform könne man nun auf die riesige installierte Basis des eigenen Hauses zugreifen und sie digitalisieren.

Heute überwacht Siemens beispielsweise 60 000 Gebäude mit Blick auf deren Energieverbrauch oder auch 9000 Windkraftanlagen online. Bei der Industrieautomatisierung sind die Münchner aber Weltmarktführer und haben hier rund 30 Millionen Systeme bei Kunden im Einsatz, die auf ihre digitale Verknüpfung warten. Diese Relationen geben eine gute Ahnung von digitalen Geschäftspotential, das gehoben werden soll.

Wer das Wirken der neuen Technologie im industriellen Alltag begreifen will, kommt um digitale Zwillinge nicht herum. Mit ihnen simuliert Siemens am Computer softwaregestützt Entwicklung, Fertigung und Einsatz einzelner Produkte, ganzer Fabriken oder globaler Produktionsnetzwerke, erklärt Siemens-Strategiechef Horst Kayser. Dadurch könne virtuell geplant und gebaut werden ohne physisch zu fertigen. Das spart Kosten spart und es verkürzt Entwicklungszeiten.

Simulation bei minus 40 Grad

Für den italienischen Sportwagenhersteller Maserati wurde digitaltechnisch zum Beispiel ein neues Automodell entworfen und zwar in 16 statt sonst üblicher 30 Monate und das bei zugleich verdreifachten Produktionsraten. Für den russischen Winter wurde im Siemens-Digitalmodell der Betrieb von Zügen bei minus 40 Grad Celsius simuliert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben dann im Realbetrieb eine 99-prozentige Verfügbarkeit der Züge erbracht, auf die die Deutsche Bahn neidisch sein könnte.

Nur Digitaltechnik könne Stromnetze schaffen, die bis 2030 eine dezentrale Energieerzeugung von zwei Dritteln erlauben, meint Kayser. Nur mit ihrer Hilfe könnten bis dahin 60 Prozent mehr Passagiere im deutschen Nahverkehrsnetz befördert werden. Dazu müssen digital vernetzte Produkte, Fabriken und Systeme aber auch lernen, sich selbst über einen Lebenszyklus von bis zu 30 Jahren hinweg zu verbessern. Das Fachwort dazu heißt Maschinenlernen und ist eine Form künstlicher Intelligenz. Dazu programmieren Siemens-Experten Algorithmen, die in Echtzeit 70 000 mögliche Fehlerquellen eines Stromnetzes analysieren und Verbesserungsvorschläge machen, bevor etwas aus dem Ruder zu laufen droht. Schon heute zählen sich die Münchner global zu den zehn bedeutendsten Softwareschmieden.

„Wir sehen die Chance, in eine neue Produktleistungsklasse vorzustoßen“, sagt Kayser selbstbewusst. In der Medizintechnik heißt das zum Beispiel, dass Siemens-Digitaltechnik einen Herzpatienten virtuell nachbildet und dem Chirurgen, per 3-D-Druck einen Zwilling des Herzens schafft, das dieser später operieren soll. Industriell können Fabriken digital in ihrer Verfügbarkeit so maximiert werden, dass sogar neue Geschäftsmodelle wie der Verkauf von Maschinenstunden möglich werden. Selbst gegenüber dem US-Erzrivalen General Electric wähnen sich die Münchner digital im Vorteil. Ein solches Selbstbewusstsein ist neu. Zuletzt galt GE als das Maß aller Dinge. Nun soll es anders herum sein.