Kommunikation, Klischees und die Bedeutung eines neuen Konzertsaals für Stuttgart: Ein Gespräch mit dem Dirigenten Teodor Currentzis, der im nächsten Jahr das SWR-Symphonieorchester übernimmt.

Stuttgart - Er ist ein Mann der Gegensätze. Manchmal wirkt Teodor Currentzis wie ein Selbstdarsteller und manchmal wie ein Mönch, dem vor allem die spirituelle Kraft der Musik wichtig ist. Im Herbst 2018 wird er Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters. Jetzt gastiert er mit Puccini in Baden-Baden.

 
Herr Currentzis, bei den Herbstfestspielen in Baden-Baden dirigieren Sie „La Bohème“. Was interessiert Sie, was berührt Sie an Puccinis Musik?
Ich gehöre zu einer Generation von Musikern, die Puccini nicht mag. Dabei war das ein wirklich großer Komponist. Ich verstehe nicht, dass Musiker, die so viele unterschiedliche Stile, Farben und Ausdrucksformen beherrschen, hier so wenig Offenheit beweisen. Vielleicht wird Puccini von vielen auch deshalb nicht gemocht, weil er zum Mainstream-Opernspielplan gehört. Aber man hört hier Musik, die einzigartig und sehr besonders Emotionen in Klänge und Melodien fasst. Puccini hat mit tiefer Wahrhaftigkeit komponiert, nicht mit Kitsch.
Könnten Sie Ähnliches auch über Tschaikowsky sagen? Dessen „Pathétique“ haben Sie gerade auf CD eingespielt, und diese Aufnahme klingt auf überwältigende Weise anders als gewohnt.
Bei Tschaikowsky gibt es ein anderes Problem. Der Respekt vor diesem Komponisten in Zentraleuropa gründet auf falschen Voraussetzungen, auf Klischees. Hier verbinden viele mit Russland nur Wodka und Babuschka. Tschaikowsky ist aber ein sehr ernsthafter Komponist. Bei ihm ist alles sehr streng, und seine vertiefte Art der Auseinandersetzung mit musikalischer Form ist auf demselben Niveau wie bei Johannes Brahms.
Was machen Sie bei der Sechsten anders als andere Dirigenten?
Ich dirigiere Tschaikowsky nicht anders, ich dirigiere ihn richtig. Bei Puccini wie bei Tschaikowsky muss man diesen kitschigen Interpretations-Mainstream des 20. Jahrhunderts loswerden. Einer der größten Tschaikowsky-Interpreten war Gustav Mahler, und das zeigt, wie nahe am Alten heute oft das Neue ist. Ich liebe die Einspielungen von Jewgeni Mrawinski. Manchmal staune ich, wenn ich Türen entdecke, die schon immer offen standen. Man hat sie nur nicht wahrgenommen.
In Perm haben Sie Ihr eigenes Ensemble Music Aeterna gegründet. Wie funktioniert das selbstverständliche Miteinander, das man im Dialog zwischen Ihnen und den Musikern erleben kann?
Es geht nicht darum, dass ein Dirigent sagt, tu jetzt dies und dann jenes. Es geht um Kommunikation und darum, die Musiker von etwas zu überzeugen. Das Geheimnis meiner Arbeit mit Music Aeterna ist, dass die Musiker in diesem Ensemble nicht nur genauso denken wie ich, sondern sogar genau spüren, was ich denke.
Ist diese Art von Kommunikation auch mit einem großen Orchester möglich?
Ja – wenn das große Orchester wie ein Kammerorchester arbeitet. Man muss persönliche Beziehungen aufbauen. Sich in die Augen schauen. Jeder soll sich als Individuum fühlen, nicht als Teil einer Masse. Sonst sitzen da vorne nicht Künstler, sondern Fabrikarbeiter oder Maschinen.