Diskurspop mal ganz anders ausformuliert: Dirk von Lowtzow legt „Aus dem Dachsbau“ vor, eine feine Sammlung autobiografischer Texte.

Stuttgart - Immer wieder hat Dirk von Lowtzow bekundet, er wolle niemanden mit seinem Privatleben belästigen. Dennoch hat seine Band Tocotronicvor gut einem Jahr das dezidiert autobiografische Album „Die Unendlichkeit“ veröffentlicht. Und nun erscheint „Aus dem Dachsbau“ mit lauter Texten, die ebenfalls von der „Schwarzwaldhölle“ der Jugend des 1971 in Offenburg geborenen Sängers, Gitarristen und Songwriters berichten, vom Weggehen nach Hamburg, vom heutigen Leben, Schreiben und Rauchen in Berlin. Liegt hier nicht ein gewisser Widerspruch vor?

 

Im Gegenteil. An Dirk von Lowtzows Texten kann man sehr schön zeigen, dass autobiografische Literatur zunächst vor allem eines ist, nämlich Literatur. Etwa an „Dezember“, einem Stück beiläufig-kunstvoll verschachtelter Erinnerungsprosa. Der Aufenthalt auf der Bordtoilette während einer Bahnfahrt von Hamburg zu den Eltern im Südwesten Mitte der Neunziger löst eine Art hoch konzentrierte Gedankenflucht im Erzähler aus: „Das Ticken der Wanduhr wiederholte unablässig ein und dieselbe Beschwörungsformel: Asterix und Obelix. Asterix und Obelix. Asterix und Obelix. Asterix und Obelix. Es war unheimlich, zwischen Möbelstücken aufzuwachsen, die über Jahrhunderte hinweg die gedämpfte Stimmung eines Sonntagnachmittags in sich konserviert hatten.“

Hier wird alles Überflüssige weggelassen und just so viel benannt, dass die Leser sich im stickigen Dickicht der Kindheit wiederfinden können. Dann allerdings stellt sich angesichts der Stoppelfelder vor dem Abteilfenster eine etwas bizarre Fantasie ein, die ganz andere Perspektiven eröffnet: „Hunderte von Menschen, zumeist Opfer von Raubüberfällen, müssen unter solchen Äckern verscharrt worden sein.“

Theorieverliebte Eichhörnchen

Die Komik des Abwegigen bewahrt die Geschichten wie die Gedichte und die abgedruckten Songtexte bei aller angstlos vorgetragenen Romantik vor dem Abdriften ins bloß noch Sentimental-Melancholische. Manches wirkt hermetisch, manches surrealistisch. Oft geht es um Menschen, die im Lowtzow-Kosmos als Sternbilder kreisen. Seine Porträtskizze der Künstlerin Cosima von Bonin zeugt – wie die Erinnerungen an den Jugendfreund Alexander – von freundschaftlicher Zugewandtheit voller Liebe und Vertrauen: „Ihr Selbstbewusstsein und ihre Aura färben auf mich ab, wenn ich in ihrer Nähe bin. (. . .) Cosima wird mich beschützen und meine Feinde notfalls verschlägern. Danach wird sie ihre Sonnenbrille zurechtbiegen, den Mantel glatt streichen und sich eine Zigarette anstecken, während ich ihre Platzwunden verarzte.“

Der Hintersinn ist eine der Qualitäten dieses fraktalen Selbstporträts, etwa wenn unter dem Titel „Diskurse“ die Besiedlung eines nächtlichen Schlossparks mit theorieverliebt quasselnden Eichhörnchen ausgefabelt und mit Versatzstücken der Abenteuererzählung „Held verirrt sich in der Wildnis“ angereichert wird. Das Sich-Verirren ist ein wiederkehrendes Motiv, das Anderssein, der Trost der Musik und die Paradoxien der Rebellion, die sich im Offenburg der Achtziger in auffälliger Kostümierung ausdrückt.

Es bezaubert und nötigt Bewunderung ab, wie Dirk von Lowtzow alle möglichen Schwächen im Leben sehr gelassen in erzählerische Stärken verwandelt. Sein Treibstoff besteht aus Einbildungskraft, Sound und Timing. So werden aus autobiografischen Anlässen Sprungschanzen, von denen das Schreiben abheben kann.