Christian Alvart, Regisseur der Nick-Tschiller-„Tatorte“, hat die zweite deutsche Netflix-Serie gedreht. „Dogs of Berlin“ ist ein Gangster-Opus mit zwei ungewöhnlichen Ermittlern: ein bisschen überfrachtet, aber spannend.

Berlin - Es gibt hierzulande kaum noch Regisseure, die sich an Genrekino wagen: weil alle wissen, dass sie im Vergleich zu Produktionen aus Hollywood schlechte Karten haben. Mit Talent hat das nichts zu tun, mit Budgets dagegen umso mehr. Deshalb war früh klar, dass jemand wie Christian Alvart nach Hollywood gehört. Sein erster großer Film, der ebenso blutige wie spannende Thriller „Antikörper“ (2005), verdeutlichte zwei Dinge: Erstens, der Mann versteht sein Handwerk, und zweitens, das deutsche Kino ist für ihn nicht groß genug. Seine nächsten Filme, „Fall 39“ und „Pandorum“ (beide 2009), sind in Amerika entstanden und konnten sich sehen lassen.

 

Zurück in Deutschland schlug seine große Stunde, als er im Auftrag des NDR Action-Kino fürs Fernsehen inszenieren durfte. Der erste Auftritt von Nick Tschiller als neuem Hamburger „Tatort“-Kommissar („Willkommen in Hamburg“) hatte im März 2013 12,74 Millionen Zuschauer. Danach sanken die Zahlen. Tiefpunkt war der 8 Millionen Euro teure Kinoausflug: „Tschiller: Off Duty“ hatte nach sechs Wochen gerade mal rund 280.000 Besucher.

Natürlich muss man diese Vorgeschichte nicht kennen, um sich „Dogs of Berlin“ anzuschauen, aber sie erklärt manches. Vermutlich war Alvart heilfroh, seine Ideen endlich ohne Rücksicht auf öffentlich-rechtliche Bedenken oder Jugendschutzvorgaben umsetzen zu können. Die erste von zehn Folgen beginnt gleich mal mit einer expliziten Sexszene; weitere folgen. Der Gewaltanteil ist allerdings deutlich höher. Mehrfach werden Menschen auf brutalste Weise zusammengeschlagen und -getreten, mitunter auch ebenso ansatz- wie grundlos. Permanent liegt Aggression in der Luft. Berlin, legt Alvart nahe, wird von der organisierten Kriminalität beherrscht. Niemand wagt es, sich mit dem arabischen Drogenclan Tarik-Amir anzulegen – mit Ausnahme des Drogenfahnders Erol Birkan (Fahri Yardim).

Die Ermittler haben mit gewohnten TV-Polizisten nichts gemeinsam

Hauptfigur ist zunächst jedoch Kurt Grimmer (Felix Kramer, bislang vor allem als Kommissar im „Zürich-Krimi“ aufgefallen) vom LKA, der mit dem gewohnten Bild der Fernsehermittler allerdings nichts gemeinsam hat. Als er beim Besuch seiner Freundin in Marzahn Blaulicht sieht, wandert er neugierig zum Tatort: Ein junger Mann ist erschlagen worden. Verblüfft stellt Grimmer fest, dass es sich um den aktuell größten deutschen Fußballstar handelt, und hat eine Idee, wie er seine Schulden bei der kroatischen Wettmafia begleichen kann.

Als Story eines handelsüblichen Krimis wäre das absurd, denn Grimmer verschwendet nicht eine Sekunde an die Aufklärung des Mordes; sein ganzes Streben gilt dem Verschleppen der Ermittlungen. Deshalb ist er auch wenig begeistert, als der Polizeidirektor (Urs Rechn) Birkan zum zweiten Leiter der Soko ernennt, damit ein Polizist mit türkischen Wurzeln beteiligt ist. An diesem Punkt könnte sich „Dogs of Berlin“ zu einer Geschichte über zwei Polizisten entwickeln, die tiefe Ressentiments gegeneinander hegen, sich aber im Angesicht des Verbrechens irgendwie zusammenraufen. Nun erweist sich jedoch als dramaturgischer Malus, was doch eigentlich der große Bonus einer knapp zehn Stunden langen horizontal erzählten Serie sein sollte: Alvart hat zu viel Zeit. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Nebenschauplätzen. Gleich mehrere dieser Exkurse erinnern an Abschweifungen in einem Roman, die getrost überflogen werden können, weil sie nichts mit dem Handlungskern zu tun haben. Einige wirken zudem wie ein Vorwand, um namhaften Gastdarstellern einen kurzen plakativen Auftritt zu ermöglichen, andere haben nur die Aufgabe, etwas umständlich in neue Handlungsaspekte einzuführen.

Viele Gewaltszenen dienen nur dem Selbstzweck

Weitere Exkurse gelten den Machenschaften des Drogenclans sowie den verschiedenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden arabischen Anführern, die exakt so ablaufen, wie sie das in Produktionen dieser Art immer tun: viel Gerede von Familie, viel Macho-Gehabe, beiläufige Brutalität. Immerhin haben diese Szenen auch dank der beiden glaubwürdigen Brüder-Darsteller Kais Setti und Sinan Farhangmehr eine gewisse Wucht; andere Nebenwege sind einfach nur Umwege. Die beiden Polizisten sind auch deshalb am interessantesten, weil alle anderen viel zu sehr im Klischee verharren. Trotzdem hat Alvart der Kraft dieser Figuren nicht getraut und sie deshalb mit weiteren Merkmalen versehen: Birkan ist schwul, Grammer hat neben Gattin Paula noch eine Zweitfamilie in Marzahn. Seine Freundin Sabine (Anna Maria Mühe) lebt von Hartz IV, platziert die Wette bei einem von David Bennent schräg verkörperten Buchmacher und wirft sich später vor das Auto ihrer Sachbearbeiterin vom Sozialamt. Die tollkühne Aktion hinterlässt allerdings bloß eine kleine Verletzung auf der Stirn. Auch andere Attacken hinterlassen keine größeren Nachwirkungen – ein Beleg dafür, dass viele Gewaltszenen nur dem Selbstzweck dienen.

Andere Einfälle genügen ebenfalls sich selbst: Dem toten Kicker fehlt ein Finger. Als Grimmer kurz drauf einen herrenlosen Hund mitnimmt, stellt sich heraus: Der Vierbeiner gehörte dem Fußballer und hat den Finger gefressen. Für die Geschichte ist das Detail jedoch ähnlich unwesentlich wie die Tatsache, dass ein junger Polizist Wachtmeister heißt. Dass „Dogs of Berlin“ dennoch sehenswert ist, liegt einerseits an den beiden männlichen Hauptdarstellern, deren Präsenz die Serie auch über die weniger gelungenen Momente hinweg trägt, und es liegt andererseits an der der kinoreifen Bildgestaltung. Trotzdem ist „Dogs of Berlin“, die zweite deutsche Netflix-Eigenproduktion nach „Dark“, ein gutes Beispiel dafür, dass eine ordnende redaktionelle Hand für eine stringentere Dramaturgie gesorgt hätte.