Der Fall der entführten und ermordeten Bankiersfrau Maria Bögerl hat weit über Heidenheim hinaus Schlagzeilen gemacht. Jetzt gab es Hoffnung, der Mord könnte aufgeklärt werden.

Heidenheim - Tiefschläge einstecken. Enttäuschungen verbergen. Darin hat die baden-württembergische Polizei im Zusammenhang mit dem Kriminalfall Maria Bögerl über die Jahre Arbeitsroutine entwickelt. Am späten Donnerstagvormittag ist wieder so ein Moment gekommen, an dem anstatt von Fahndungsergebnissen nur tapfere Worte präsentiert werden konnten. Die Ergreifung eines lang gesuchten 47-jährigen Verdächtigen, der sich nach einem DNA-Abgleich als nicht mehr dringend tatverdächtig erwies, sei „kein Misserfolg, weil wir eine sehr relevante Spur abhaken können“, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Ulm. Es werde sich auch weiterhin ein Beamter „ausschließlich um den Fall kümmern“.

 

Wie es im Innern der Ermittler aussieht: keine Angaben. „Wir machen unsere Arbeit professionell und wissen, wie wir damit umgehen müssen“, sagt der Polizeisprecher nüchtern. Jedenfalls müssen sich die Fahnder nicht vorwerfen lassen, unbegründet eine kriminalistische Attraktion aufgeblasen zu haben. Dass der Moderator Rudi Cerne am Mittwochabend in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ von einer „sensationellen Spur“ sprach, sei nicht choreografiert gewesen und auch „nicht unser Sprachgebrauch“, heißt es vonseiten der Polizei.

Eine Bluttat am Rande des Wahnsinns

Die hochgespannten Erwartungen, die sich mit der neuen Wendung im Fall Bögerl verbanden, sie lagen vor allem in der Psychologie der Wahrnehmung dieses Falles begründet. Schließlich handelt es sich um eines der brutalsten, rätselhaftesten und – bezogen auf die ganze Familie Bögerl – tragischsten Verbrechen der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte. Erst eine Entführung und Bluttat irgendwo am Rand des Wahnsinns, dann eine jahrelange Verbrechersuche, die immer eine Schattenjagd bleibt. Und schließlich, nach fast sieben Jahren, als die Aktendeckel eigentlich geschlossen sind, das Auftauchen eines Unbekannten, der sich im nordrhein-westfälischen Hagen Fremden anvertraut und von seiner Mordtat erzählt. Jemand, der durch alle Maschen geschlüpft ist, sich mit Messern auskennt und, enthemmt vom Alkohol und unter Gewissensqualen, Erlösung sucht – so hätte es gewesen sein können. Eine kurze, nochmals alles steigernde Schlussepisode im großen Drama. Es klang so stimmig. Aber die Polizei ist nicht für die Fantasien des Publikums verantwortlich.

Für die 20 Beamten der kurzfristig in Ulm wiederbelebten Sonderkommission „Flagge“ war die öffentliche Fahndung nach dem großen Unbekannten keineswegs der Auftakt für eine neue Jagd nach dem Mörder, sondern der Versuch, sie noch zu einem Abschluss zu bringen. Über Monate hinweg war im Stillen ermittelt worden, nachdem Ende Juni vergangenen Jahres zwei Zeugen den befremdlichen schwäbischen Monolog eines Mannes, der sich nicht mit Namen vorstellte, mit dem Handy aufgezeichnet hatten. Aus dem Dorf Ochsenberg nahe Heidenheim komme er, einer Spezialeinheit der Bundeswehr habe er angehört, ein Messer liege in den Wäldern von Ochsenberg – und die Familie Bögerl hasse er, lallt der nächtliche Passant, torkelt dann in die Hagener Dunkelheit weiter – bevor die Polizei ihn greifen kann.

„Der war es nie und nimmer“

Wer konnte bis zum Donnerstag wissen, dass der Mann zwar wirklich in der Gemeinde Königsbronn lebt, nicht aber im Teilort Ochsenberg mit seinen 600 Einwohnern? Und dass er 2016 wegen eines Krankenhausaufenthalts in Hagen war? Die Ochsenberger identifizieren den am Mittwoch veröffentlichten Stimmen-Mitschnitt des 47-Jährigen jedenfalls schnell. Wer Näheres wissen will, erfährt es über Whatsapp-Mitteilungen oder am Telefon. „Natürlich hab ich die Stimme gleich erkannt“, sagt ein junger Mann, der – wie nahezu alle im Dorf – seinen Namen nicht in der Zeitung lesen mag. „Das war so eine Art Obdachloser, der hat hier oben im Wald gelebt.“ Ihm sei gleich klar gewesen, noch bevor die Polizei ihren DNA-Abgleich präsentierte: „Der war das nie und nimmer.“

Die Einheimischen wundern sich über die öffentliche Fahndung

Der war’s nicht – das ist auch die Meinung der Seniorengruppe, die im Café Seeblick die Kaffeekännchen leert. Ein ganzes Stück den Berg hinunterlaufen müssen die Ochsenberger, wenn sie Kaffee und Kuchen genießen wollen. Bei ihnen im Dorf hat die letzte Gastwirtschaft schon vor Jahren geschlossen. An der Sandgrube hängt außen die Pfanne, in der am 31. August 2010 das letzte Schnitzel gebraten wurde, danach war Schluss. Den Hirsch neben dem alten Rathaus hat das gleiche Schicksal getroffen. Ladengeschäfte gibt es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Der fahrende Metzger, der an diesem Donnerstag seine selbst gemachten Leberwürste anbietet, ist daher so etwas wie Stammtischersatz. „Natürlich kennen hier alle den Verdächtigen“, sagt Metzgermeister Michael Suhr, „und mit mir reden die Leute auch drüber.“ Das Fazit der Gespräche ist immer das gleiche: „Der war’s nicht.“

Unweit des zentralen Lindenplatzes steigen ein paar Frauen in ihr Auto. Auch sie wundern sich, wie man diesen Mann mit der Tat in Verbindung bringen konnte. „Den kennt jeder“, sagt die eine, der habe bei jedem Dorffest in volltrunkenem Zustand ein Bier geschnorrt. Und noch mehr wundern sich die Frauen darüber, dass die Fahndung so öffentlichkeitswirksam zelebriert wurde. Man hätte nur den Polizisten aus der Gegend mal die Stimme vorspielen müssen, dann wäre alles klar gewesen. Und natürlich sind sie auch davon überzeugt, dass „der es nie gewesen sein kann“. Das Wichtigste ist den Frauen aber etwas anderes: „Das ist kein Ochsenberger.“ Der Mann habe sich zwar oft in den Wäldern herumgetrieben, er stamme aber aus Königsbronn. Und dahin gehe es gut zwei Kilometer durch den Wald den Berg hinunter.

Von einer „heißen“ Spur wollte niemand reden

Die Polizei war ja selber längst in Ochsenberg zu Befragungen unterwegs. Und sie tat noch vielmehr. Die Bundeswehrverwaltung, Meldebehörden, Rentenversicherungsstellen, alles sei bei der Suche nach dem Verdächtigen „abgeklappert“ worden, sagt der Sprecher der Ulmer Polizei. Erst danach sei der Entschluss gefallen, auch zusammen mit dem Bundeskriminalamt, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Der Sprecher der ermittelnden Staatsanwaltschaft Ellwangen, Armin Burger, vermeidet bereits am Mittwoch das Adjektiv „heiß“, als er auf Anfrage unserer Zeitung die neue Spur im Fall Bögerl bestätigt. In auffällig defensiver Diktion fügt er hinzu, seine Ermittlungsbehörde sei auch sieben Jahre nach der Tat verpflichtet, „ insbesondere auch den Kindern gegenüber, alles in unserer Macht Stehende zu tun, das Verbrechen aufzuklären“. Maria Bögerl ist am 12. Mai 2010 aus ihrem Wohnhaus in Heidenheim-Schnaitheim entführt und später in einem Waldstück an der Autobahn 7 erstochen worden. Ehemann Thomas Bögerl wurde zunächst als Drahtzieher verdächtigt und in Sozialmedien auch öffentlich bezichtigt. Zunehmend psychisch angeschlagen wurde er schließlich aus seinem Posten als Vorstandsvorsitzender der Kreissparkasse Heidenheim gedrängt, im Juli 2011 nahm er sich zu Hause das Leben. 2012 erfuhren die hinterbliebenen Kinder aus dem „Spiegel“, dass sie mitsamt Verwandten und Freunden mittels einer staatlichen Spionage-Software, dem sogenannten Bundestrojaner, abgehört wurden. Sogar eine Therapeutin der Familie war wohl von der Lauschaktion betroffen – ein staatlicher Rechtsbruch. Sehr wahrscheinlich liegt in dieser höchst belastenden Episode des Kriminalfalles Bögerl die Erklärung dafür, weshalb sieben Jahre nach der Bluttat immer noch eine eigene Ermittlungsgruppe an Werk ist.

Es müssen mehrere Täter gewesen sein

Die verhaltene Wortwahl der Staatsanwaltschaft hat, wie sich wenig später zeigt, nicht nur ihre Berechtigung, sondern auch einen weiter reichenden Grund. Schon einmal haben sich die Fahnder im Bögerl-Fall im Lügennetz eines Wichtigtuers verheddert. Ein Familienvater aus Giengen (Kreis Heidenheim) hatte über Monate damit geblufft, Kontakt zu den Mördern zu haben und für seine vermeintliche Vermittlerarbeit tranchenweise knapp 5000 Euro „Aufwandsentschädigungen“ aus Staatsmitteln kassiert. Im Oktober 2014 endete die Narretei vor dem Landgericht Ellwangen, das eine Gefängnisstrafe auf Bewährung gegen den damals 41-jährigen Angeklagten verhängte.

Da war aber immer noch ein anderer, gewichtigerer Zweifel: Als sich die Polizeifahndung verstärkte und der erfahrene Stuttgarter Mordermittler Volker Zaiß vorübergehend die Heidenheimer Soko-Leitung übernahm, da verdichtete sich polizeiintern zugleich die Überzeugung, es müssten mindestens zwei Täter am Werk gewesen sein. Die höchst risikoreiche Überwältigung und Entführung von Maria Bögerl am hellen Tag in ihrem eigenen Haus, dem ein längeres Ausspähen vorangegangen sein dürfte, der Wechsel von der zunächst benutzten Mercedes A-Klasse der Frau in einen bereitgestellten Fluchtwagen im Innenhof des Klosters Neresheim – das alles passe nicht zu einem Einzeltäter, hieß es.

So ist denn der vermeintliche mordende Ex-Soldat und Hasardeur aus Ochsenberg, der aber aus Königsbronn stammt, nur ein weiterer Fantast in diesem weiter mysteriösen Fall. Der nächste Märchenerzähler. Seit Donnerstagnachmittag, immerhin, hat er seine Freiheit zurück.