Kann die Festnahme von mehreren Drogendealern in der Altstadt tatsächlich zu einer Beruhigung der Szene führen – zumindest zeitweise? Ja, meint Rainer Lang von der Caritas – und führt einige Gründe dafür an.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Die Zahlen sprechen für sich: Bis zum 14. September hat sich die Zahl der Spritzen, die von einem Mitarbeiter des Cafés High Noon täglich im Leonhardsviertel eingesammelt werden, gegenüber dem Vormonat mehr als halbiert – im gesamten August waren es 102 Nadeln und 144 Spritzen gewesen.

 

Rainer Lang, der Leiter des Fachdienstes Suchtberatung und -behandlung, führt Buch über die Funde. Ihm ist sofort aufgefallen, dass die neuesten Zahlen dafür sprechen, dass nicht mehr so viele Drogen an den Orten konsumiert werden, die dafür bekannt sind, dass sich Süchtige gerne mal einen Schuss setzen, also etwa an der Altkatholischen Kirche oder der Wächterstaffel. „Den Rest des Monats September habe ich zwar noch nicht ausgewertet, aber beim Übertragen der Zahlen habe ich festgestellt, dass der Trend sich fortzusetzen scheint“, sagt Lang.

95 Prozent der knapp 200 untersuchten Spritzen enthielten Kokain

Und Lang glaubt auch zu wissen, warum dem so ist: Am 22. August ist der Polizei ein großer Schlag gegen die Drogenhändlerszene in der Stuttgarter Altstadt gelungen: Beamte haben neun Männer festgenommen, die vor allem das Rotlichtmilieu in der Stadt mit Kokain versorgt haben sollen.

Ein bisschen spekulierte Lang bereits auf diese Entwicklung, als er von der Festnahme erfuhr. Schließlich hatte er für die Caritas die gefundenen Spritzen aus den Kalenderwochen 27 bis 32, also vom 2. Juli bis zum 12. August, in das Labor des Katharinenhospitals eingeschickt, um sie auf ihre ursprünglichen Substanzen untersuchen zu lassen. „Es hat sich herausgestellt, dass 95 Prozent der knapp 200 untersuchten Spritzen Kokain enthalten haben“, sagt Lang. Daneben wurde unter anderem Heroin, Methylphenidat, Buprenorphin und Methadon gefunden.

Der Entzug bei Kokain ist nicht so komplikationsreich

Dass Kokain gespritzt und nicht geschnupft wird ist eine Entwicklung, die in den letzten Jahrzehnten zunimmt. „Es wirkt so effektiver, den so geht weniger verloren als über die Schleimhäute“, sagt Lang. Wenn also wenig Geld oder wenig Kokain zur Verfügung steht, greifen Süchtige gerne zur Spritze.

Und wenn gar kein Kokain zur Verfügung steht? Ist es wahrscheinlich, dass ein Süchtiger dann eben keinen Stoff zu sich nimmt? „Im Unterschied zu vielen anderen Drogen wie etwa auch Heroin ist der Entzug bei Kokain nicht so komplikationsreich“, sagt Lang. „Hauptsächlich kommt es zu einer depressiven Verstimmung“, sagt Lang. Diese dauere Tage oder auch Wochen an. Hingegen verspüre der Süchtige so gut wie keine körperlichen Symptome. Insofern, sagt Lang, sei es bei Kokain tatsächlich so, dass mit dem Angebot die Nachfrage generiert werde. Sprich: Wenn der Stoff fehlt, wird er nicht oder weniger konsumiert.

Polizeiliche Einsatzmaßnahmen führten immer wieder zu temporären Verdrängungen

Lang hat zudem festgestellt, dass auch bei dem Spritzenautomaten vor dem High Noon die Nachfrage zurückgegangen ist. „Alles in allem drängt sich durchaus ein Zusammenhang zwischen den gefassten Dealern und den gesunkenen Zahlen an Spritzen auf – es scheint da eine Kausalität zu geben“, sagt Lang. Die Polizei bestätigt diese Einschätzung – zumindest zum Teil: „Öffentlich wahrnehmbare Drogendelinquenz richtet sich unter anderem nach Angebot und Nachfrage“, so Tobias Tomaszewski von der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums Stuttgart. Polizeiliche Einsatzmaßnahmen führten immer wieder zu temporären Verdrängungen. Ob diese allerdings von längerer Dauer sind, könne nicht vorhergesagt werden.

Die Spritzen, die gefunden werden, sind nur die Spitze des Eisbergs

Die Polizei macht jedoch noch einen weiteren Grund für die Entspannung verantwortlich: „Nach unserer Einschätzung kam es in der Folge der polizeilichen Maßnahmen, aber auch aufgrund der weiterhin hohen Präsenz und des Kontrolldrucks der polizeilichen Einsatzkräfte zu einer spürbaren Entlastung der Gesamtsituation.“ Zudem wäre es nach Ansicht der Polizei auch möglich, dass sich die Szene schlicht verlagert hat. „Durch die hohe Mobilität im innerstädtischen Bereich muss auch von einer hohen Flexibilität von Drogenkonsumenten und Dealern ausgegangen werden. Dies führt dazu, dass es an verschiedensten Örtlichkeiten in und um Stuttgart zu Drogendelinquenz kommt“, so Tomaszewski.

Auch Rainer Lang ist sich bewusst, dass die Spritzen, die gefunden werden, nur die Spitze des Eisbergs sind: „Klar ist, dass das nur ein Bruchteil ist.“ Die meisten Spritzen würden zu Hause konsumiert und sicher – also in Einmachgläsern etwa – über den Hausmüll entsorgt.

Wenigstens im Leonhardsviertel aber, davon ist er weiterhin überzeugt, haben „sich die Festnahmen positiv auf die Szene ausgewirkt: Die Situation hat sich momentan beruhigt“.