Das Misstrauen gegenüber Nachbarn und Fremden sitzt tief im Balkan. Unser Korrespondent Thomas Roser wird daher manchmal für einen Spion gehalten. Manchmal wird er allerdings selbst ausspioniert.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Belgrad - Ein kurzweiliger Sonntagabend sieht anders aus. In Schlips und im Schweinwerferlicht schwitzen ab- oder wiedergewählte Amtsträger. Gehetzte Chronisten japsen im Gedränge nach Zitaten – und Luft. Und dann quetschen sich auch noch lärmende Musikanten durch die Gänge der Parteizentralen. Auch in Serbien gibt es bessere Sausen als Wahlpartys.

 

Doch manchmal lösen sich im Nachwahlchaos die Sieger- und Verliererzungen. Gefragt, warum ich trotz mehrmaliger Anfragen kein Interview mit seinen Chefs erhalten habe, offenbarte mir kürzlich in Belgrad ein Parteisprecher Grundsätzliches: „Die wollten nicht mit Ihnen sprechen. Die glauben, dass Sie ein Spion sind.“

US-Agent oder Knecht des westlichen Kapitals?

„Balkanski spijun“ („Balkan Spion“) lautete der Titel eines jugoslawischen Kultfilms aus den Achtzigern. Überzeugt, dass sein aus dem Westen heimgekehrter Untermieter Petar ein Agent und eine Bedrohung für die nationale Sicherheit sei, schnüffelte der paranoide Ex-Stalinist Ilija seinen Nachbarn aus. In einer Region, in der Klatsch, Tratsch und Verschwörungstheorien immer Hochkonjunktur haben, beflügelt zumindest der Berufsstand der neugierigen Frager auch drei Jahrzehnte später noch die Fantasie: Der vermeintliche Auslandsagent im Journalistengewand wird immer schnell erkannt.

„Wie geht’s deinem James Bond im Skoda?“, erkundigte sich neulich in Belgrad der Pizzabäcker Misa bei meiner Freundin. Auf weniger freundliche Aufnahme stieß ich als angeblicher Agent in der kroatischen Krajina. „Mach, dass du wegkommst, du russischer Spion!“, fauchten mich Einheimische an, als ich in einem Dorf zerstörte Häuser von vertriebenen Serben fotografierte. Per Mail wurde ich derweil von einem Kroatenverband erst als serbischer und dann als britischer Agent „enttarnt“. Auch im Kosovo wurde ich regelmäßig als US-Agent oder Knecht des westlichen Kapitals entlarvt.

Die Nachbarin weiß über den Damenbesuch genau Bescheid

Das Misstrauen gegenüber dem Nächsten sitzt tief in der Vielvölkerregion. Vielleicht ist es aber auch der heimliche Neid auf den scheinbaren Traumberuf des Auslandsspions, der hier die Agentenlegenden blühen lässt. Denn viele Bewohner des zerfallenen Staats verfügen über das wichtigste Spionagerüstzeug: eine unersättliche Neugier, die auch vor der Privatsphäre nicht haltmacht, ganz im Gegenteil.

Ob auf dem Markt, beim Straßenklatsch oder im Taxi: mit verblüffender Offenheit werden im hochkommunikativen Serbien nicht nur Nachbarn, sondern auch Zufallsbekanntschaften und Fremde nach ihrem Gehalt, der Miete, dem Kredit, ihrem Besitzstand, dem Wohl der Familie und etwaigen Liebschaften ausgefragt – oder besser: ausgepresst. Zu den erhaltenen Infos gesellt sich eine lebendige Vorstellungskraft: Schlüsse werden gerne sehr schnell gezogen. Meist mangelt es den mitteilungsbedürftigen Hobbyspionen aber an der agentenüblichen Verschwiegenheit: Mit ihren Erkenntnissen halten auch die klatschfreudigen Belgrader nur selten hinterm Berg.

„Sie haben ja sehr viel Damenbesuch“, kommentierte in meiner ersten Belgrader Behausung die allwissende Nachbarin Snezana die gelegentlichen Visiten von Kolleginnen und der Sprachlehrerin: „Gut, Sie sind jung. Aber Sie müssen selbst wissen, was Sie da tun.“ Auch eine Zechtour bis in die frühen Morgenstunden mit meinem Besuch aus Polen ließ Snezana nicht unkommentiert. Schon wieder sei ich sehr spät „mit einer jungen Frau“ nach Hause gekommen sei, sagte die selbst ernannte Blockwärterin leicht tadelig. Eine Antwort wollte sie ohnehin nicht hören – ich habe ihr sie auch erspart. Die von ihr durchs Guckloch im Treppenhaus erspähte Liebhaberin hatte einen Bierbauch, eine Glatze – und hieß Krzysztof.