Wer mit einem türkischen Minibus reist, stellt fest: es ist chaotisch – und streng ritualisiert, wie unser Autor Knut Krohn berichtet. Während der Fahrt hat er die beiden goldenen Regeln befolgt: Zieh niemals deine Jacke aus! Und: Schweige!

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Gaziantep/Türkei - In der Türkei über Land zu reisen ist ein Abenteuer. Zu sehen gibt es faszinierende Landschaften, viele Kulturstätten, und man trifft auf freundliche Menschen. Der wirkliche Kick aber sind die Fahrten mit dem typischen Minibus, dem Dolmus. Millionen von Menschen pendeln mit ihm jeden Tag von Stadt zu Stadt, ohne ihn würde das öffentliche Leben stillstehen. Für einen Fremden wie mich ist dieses System der Minibusse allerdings ein großes, kaum zu durchschauendes Rätsel.

 

Schon an den Busbahnhöfen, den Otogar, herrscht ein unentwirrbares Durcheinander, doch schnell wird klar: hier handelt es sich um das sich selbst ordnende Chaos. Wie von einer magischen Hand geführt, trifft der verschüchterte Reisende gleich am Eingang eines Otogars immer auf eine hilfsbereite Person, dessen Bruder-Schwager-Onkel zufällig ein Dolmus in die gesuchte Stadt steuert.

Der Fahrer übt sich im Multitasking

Feste Abfahrtszeiten hat das Fahrzeug nicht, gefahren wird, wenn der Minibus voll ist. Doch voll heißt in diesem Fall türkisch-voll, nicht deutsch-voll. Konkret: wenn das Dolmus voll besetzt ist, werden noch zwei oder drei Personen eingeladen. Die kauern dann zum Beispiel auf einfachen Holzschemeln im engen Gang.

Für die Fahrgäste gibt es zwei wunderliche Regeln: niemand zieht die Winterjacke aus, auch wenn es in dem engen Bus heiß und stickig ist wie in den Tropen. Und: die Gäste verbringen stundenlange Fahrten schweigend. Kurz nach der Abfahrt fragt der Fahrer noch, wer am Ziel wo aussteigen will, dann schalten alle Anwesenden in eine Art mentalen Standby-Modus. Das Problem: der Fahrer tut das auch. Die Augenlider auf halbmast, immer wieder einmal herzhaft gähnend, rast er über die meist pfeilgeraden türkischen Straßen. Ab und an wird er von einem entgegenkommenden Fahrzeug mit lautem Gehupe darauf aufmerksam gemacht, dass das Dolmus sich gefährlich der Straßenmitte nähert. Dann schreckt der Chauffeur hoch, und wie um seine Geistesgegenwart zu beweisen, probiert er alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel in seinem Cockpit: den Scheibenwischer, die Heizung, das Gebläse und – wenn vorhanden – auch den elektrischen Außenspiegel. Meist greift er danach zu einer Zigarette und dem Handy und demonstriert seine Fähigkeiten im Multitasking.

Er hätte Applaus verdient

Wenn sich das Dolmus dem Ziel nähert, kommt wieder Leben in den Wagen. Während der Fahrer sich hupend den Weg durch den dichter werdenden Verkehr bahnt, beginnt er ausgiebig zu telefonieren und informiert den dortigen Bruder-Schwager-Onkel über die Ankunft, damit dieser schon einmal auf Kundenfang gehen kann. Gleichzeitig diskutiert er mit den Fahrgästen noch einmal sehr ausführlich und gestenreich, wo diese aussteigen wollen. Und es gehört zum Service eines aufrechten Dolmus-Fahrers, dass er für die Zufriedenheit seiner Kunden auch kleine Umwege in Kauf nimmt. Schade, dass bei der endgültigen Ankunft am Otogar keiner applaudiert – der Fahrer hätte es durchaus verdient.