Der Weitspringer Reinhold Boschert hat bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-City den zwölften Platz belegt – und er war bei dem legendären Auftritt von Bob Beamon hautnah dabei. Er gehörte sogar zu den ersten Gratulanten.

Filder - Bob Beamon ist bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-City aus dem Nichts gekommen und in der Ewigkeit gelandet – und Reinhold Boschert, der damals 21-jährige Weitspringer vom SV Stuttgarter Kickers, war bei dieser Sternstunde der Leichtathletik hautnah dabei. „Beim Zurücklaufen habe ich aus dem Augenwinkel gesehen, wie er abspringt, und dann nur noch gedacht: Wow, der hört ja gar nicht mehr auf zu fliegen“, sagt Boschert über den Jahrhundertsprung von Beamon an jenem denkwürdigen 18. Oktober in die Sandgrube des Estadio Olímpico Universitario. Weil die Messvorrichtung ihren Dienst versagte, musste das alte Maßband ran. „Es hat mindestens 20 Minuten gedauert, ehe die 8,90 Meter auf der Anzeigentafel leuchteten“, sagt Boschert, der dann zu den ersten Gratulanten gehörte.

 

Kollektives Kopfschütteln

Für Boschert, der als Siebter der Qualifikation in den Endkampf eingezogen war, reichte es mit 7,89 Metern am Ende zum zwölften Platz unter 35 Teilnehmern bei seinem ersten und einzigen olympischen Wettbewerb. Aber selbst wenn er an diesem Tag weiter gesprungen wäre, vielleicht den von ihm zuvor selbst aufgestellten deutschen Rekord von 8,01 Metern noch einmal übertroffen hätte – das Interesse wäre wohl gegen Null tendiert. „Nach Bobs Sprung im ersten Versuch war der Wettkampf eigentlich vorbei“, sagt Boschert. Alle seien nur noch dagesessen und hätten den Kopf geschüttelt. Die Konkurrenz hatte, kaum dass sie begonnen hatte, bereits ihren Sieger. Das wussten alle.

Aber nicht nur wegen Beamons Glanzleistung sind die Spiele in Mexiko für den heute 74-jährigen Boschert, der sich als einziger westdeutscher Weitspringer qualifiziert hatte, unvergessen. Schon das Trainingslager im US-amerikanischen Flagstaff, das der Deutsche Leichtathletik-Verband im Vorfeld organisiert hatte, damit sich seine Athleten an die Höhenlage gewöhnen konnten, hatte es in sich. Weil sich dort außer den Deutschen viele weitere Athleten vorbereiteten, fanden auch einige Testwettkämpfe statt. Und bei einem dieser Kräftemessen sprang Boschert die erwähnten 8,01 Meter. Deutscher Rekord. Mitgefreut hat sich der US-Weitspringer Ralph Boston, der 1960 in Rom Olympiasieger geworden war, vier Jahre später in Tokio Silber gewonnen hatte und bis zu Beamons Satz mit 8,35 Metern Weltrekordhalter war. „Wir haben uns dann auch ein wenig unterhalten, uns über Trainingsmethoden ausgetauscht – so gut das halt mit meinem bisschen Schulenglisch ging“, sagt Boschert.

Doping-Geheimnis des Zimmerkollegen?

Das Zimmer im Trainingslager hat er sich mit dem Hammerwerfer Uwe Beyer von Holstein Kiel geteilt. „Wir wurden nach dem Alphabet eingeteilt“, erinnert sich Boschert. Verstanden hätten sich die beiden super – auch wenn Beyer, der wegen seiner Popularität und imposanten Statur sogar in der Kinoproduktion „Die Nibelungen“ (1966/1967) als Siegfried eine Hauptrolle bekommen hatte, ein großes Geheimnis um sein braunes Fläschchen machte. „Er hat immer behauptet, da seien nur Vitamine drin“, sagt Boschert. Beyer starb 1993 mit nur 48 Jahren an einem Herzinfarkt – mutmaßlich eine Spätfolge jahrelangen Dopings mit Anabolika, wozu er sich später, Anfang der 1980er Jahre, bekannt hatte.

Im Olympischen Dorf hatte Boschert schließlich ein Zimmer für sich allein. Weil die Bauarbeiten beim Einzug der Athleten aber noch nicht überall abgeschlossen waren, schlief er im Badezimmer. „Ich habe das Bett da reingestellt. War zwar ein bisschen eng, aber ich hatte meine Ruhe“, sagt der gebürtige Freudenstädter. Der Leistung habe das nicht geschadet. Sie alle hätten das damals „sehr locker gesehen“. Und so auch gingen er, der aus Murrhardt stammende Dreispringer Joachim Kugler und dessen Trainer Paul Rapp (in den 1940er Jahren erfolgreicher Dreispringer bei den Stuttgarter Kickers) auf Erkundungstour durchs Land. „Einmal sind wir von einer Mutter und ihrer Tochter angesprochen worden“, sagt Boschert. Das sei nicht ungewöhnlich gewesen, da alle, die im Trainingsanzug auftauchten, sofort von den Einheimischen umringt und ausgefragt wurden. Überhaupt seien die Trainingsanzüge Türöffner für alles gewesen. „Im Stadion haben uns die Kontrolleure auf die Schulter geklopft und uns einfach reingelassen“, sagt Boschert. So kam es, dass er beim Sieg des US-Amerikaners Jim Hines über 100 Meter auf Höhe des Zielstrichs saß.

Enthusiastische Gastgeber

Zurück aber zu den beiden Mexikanerinnen: Ungewöhnlich sei dann gewesen, dass die beiden Frauen das Trio in ihren Ford Mustang packten, mit nach Hause nahmen und dort kurzerhand verköstigten. „Mit der Tochter hatte ich danach noch lange eine Brieffreundschaft“, erzählt Boschert, dem nicht nur der Austausch mit den gastfreundlichen und enthusiastischen Mexikanern gefallen hat, sondern auch mit den Sportlern aller Nationen im Olympischen Dorf. Mit einem Japaner hat er dort den Trainingsanzug getauscht. „Da hatte ich dann plötzlich einen Nippon-Anzug“, sagt Boschert. Heute freilich gibt es diesen nicht mehr, wohl aber ziert die Figur einer mexikanische Gottheit das Wohnzimmer des ehemaligen Leichtathleten – und das, obwohl das Mitbringsel aus Ton auf dem Rückflug mehrfach gebrochen ist.

Vielleicht hätte Boschert das gute Stück schon vor seinem Wettkampf kaufen und als Glücksbringer mit ins Stadion nehmen sollen. Denn sein erster Sprung im Endkampf, bei dem er leicht übertrat und der folglich für ungültig erklärt wurde, sei richtig weit gewesen. „Augenzeugen schätzten ihn auf 8,20 Meter“, sagt Boschert. Diese Weite hätte am 18. Oktober 1968 für Silber gereicht – hinter Bob Beamon, dessen Fabelweltrekord dann 23 Jahre lang Bestand haben sollte. Erst 1991 wurde er von Mike Powell überboten.

Reinhold Boschert wurde am 6. Februar 1947 als zweites von sieben Kindern in Freudenstadt geboren. Dort wuchs er auch auf und machte das Abitur. Bis zu seinem Ruhestand war er als Vermessungsingenieur tätig. 1974 heiratete Boschert die damals ebenfalls für die Stuttgarter Kickers aktive Hochspringerin Renate Pietschmann. Aus der Ehe, die später geschieden wurde, gingen zwei Kinder hervor: Sebastian (39) und Katharina (35). Seit zwei Jahren ist Boschert, der in Kornwestheim lebt, stolzer Opa eines Enkelsohns.

Zur Person Reinhold Boschert

Seinen ersten größeren Erfolg feierte der Weitspringer mit Platz eins bei den württembergischen B-Jugend-Meisterschaften. In der A-Jugend stellte er mit 7,29 Metern einen württembergischen Jugendrekord auf, fiel dann aber für längere Zeit aus. Verletzungen wurden überhaupt zum Begleiter in Boscherts Karriere. Der Knoten platzte 1968, als er die Olympia-Qualifikation schaffte, deutscher Meister der Junioren und deutscher Vizemeister der Männer wurde – und mit 8,01 Metern zum deutschen Rekord sprang. Nach Olympia, 1969, holte Boschert diesmal bei den Aktiven den nationalen Titel und qualifizierte sich für die EM in Griechenland – die dann aber vom westdeutschen Team boykottiert wurde. Hintergrund war die verweigerte Startberechtigung für den aus der DDR geflüchteten Läufer Jürgen May.

Eine Knieoperation sowie eine rheumatische Erkrankung der Wirbelsäule läuteten bereits 1970 Boscherts Karriereende ein, zumindest in Sachen Leistungssport. Da war er gerade einmal 23 Jahre alt. (sd)

Mexiko-City 1968: Weltrekordflut und Black Power

Im internationalen Gedächtnis haben sich von den Spielen in Mexiko vor allem zwei Begebenheiten eingebrannt. Zum einen Bob Beamons Fabelweltrekordsprung (siehe auch Artikel oben). Zum anderen der Black-Power-Gruß der US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos. Nach ihren Medaillengewinnen im 200-Meter-Lauf nutzen beide Athleten die Siegerehrung, um für Menschenrechte und gegen Rassendiskriminierung zu protestieren: Das Bild, wie sie während der Hymne die schwarze Faust gen Himmel recken, wird zu einem der berühmtesten der olympischen Geschichte. Die Konsequenz, auf Druck des IOC: das Duo muss vorzeitig nach Hause – und avanciert zu Ikonen der Bürgerrechtsbewegung in seinem Heimatland.

Für Deutschland treten erstmals zwei offiziell voneinander getrennte Mannschaften an: BRD und DDR, wenn auch unter improvisierten Kompromissbedingungen. Für beide ertönt dieselbe Hymne, Beethovens „Ode an die Freude“. Den sportlichen Bruderkampf entscheidet der Osten klar für sich. Das westdeutsche Aufgebot muss sich mit fünfmal Gold und Platz acht im Medaillenspiegel bescheiden. Der Ruderachter und das Dressurteam um den Altmeister Josef Neckermann ragen heraus.

Insgesamt erleben die Spiele eine Rekordflut. Begünstigt durch die mexikanische Höhenluft, fallen allein in der Leichtathletik 17 Weltrekorde. Dick Fosbury revolutioniert den Hochsprung mit einer neuen Technik, dem seither nach ihm benannten Fosbury-Flop. Zum erfolgreichsten Teilnehmer wird indes die Turnerin Vera Caslavska. (frs)