Die Familie eines ehemaligen französischen Zwangsarbeiters hat das Porsche-Museum in Zuffenhausen besucht. Dort wird in der Ausstellung auf die Geschichte von Jean Cast eingegangen.

Für die meisten Menschen ist der Besuch im Porsche-Museum mit unbeschwerten und heiteren Stunden verbunden. Ganz anders erging es hingegen Albert und André Cast: Als die beiden Brüder sich vor Kurzem auf Einladung der Firma Porsche das Museum ansahen, flossen Tränen. Jean Cast, der Vater der Beiden, war während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in Zuffenhausen beschäftigt. Sein Schicksal wird in einem Teil der Ausstellung aufgegriffen, der sich mit der NS-Zeit beschäftigt.

 

Eine gebürtige Schweizerin erforschte die Geschichte

„Es war für mich eine große Ehre, hierher eingeladen zu werden“, sagt Albert Cast. Jahrelang schlummerten die alten Fotos und Papiere seines Vaters in einer Kiste, bis seine Ehefrau Sabine sie entdeckte und neugierig wurde. „Es hat mich richtig gepackt. Schließlich kam ich der Geschichte Stück für Stück näher“, erzählt die gebürtige Schweizerin, die Albert vor zwölf Jahren geheiratet hat und zu ihm nach Südfrankreich gezogen ist. Das Ehepaar wohnt rund 15 Kilometer entfernt von der kleinen Stadt Pertuis, wo Jean Cast geboren wurde und auch die meiste Zeit seines Lebens verbrachte.

Monatelange Nachforschungen

Sabine Cast, die ein Faible für Geschichte hat und dieses Fach auch studierte, lernte ihren Schwiegervater nie kennen. Er starb 1989, damals war sie noch nicht mit Albert verheiratet. Trotzdem verbrachte sie 2019 viele Monate damit, Nachforschungen anzustellen. So kam schließlich ein 48-seitiges Dossier zustande – in dem neben alten Fotos und Dokumenten auch fein säuberlich alle Stationen und Daten von Jean Cast in Deutschland festgehalten sind. Eingegangen wird auch auf die historischen Hintergründe, also beispielsweise auf die deutsche Besetzung Frankreichs, die Rekrutierung von Zwangsarbeitern, die alliierten Bombenangriffe, die Invasion in der Normandie und auf das Kriegsende.

Die Geschichte ist repräsentativ für viele

Wie Jean Cast, 1922 geboren, im Juni 1943 in Zuffenhausen landete und wie er wieder zurück nach Frankreich kam, diese Geschichte ist ebenso berührend wie auch repräsentativ für das Schicksal vieler Hunderttausender Zwangsarbeiter aus ganz Europa, die in der deutschen Rüstungsindustrie schuften mussten: Zunächst wurde Cast dazu verpflichtet, in der CJF (Chantiers de la Jeunesse, eine paramilitärische französische Jugendorganisation) zu dienen. Von dort floh er im Mai 1943, wurde aber bald aufgegriffen und nach Deutschland gebracht. Hier ist es wichtig, den historischen Kontext zu kennen: Nach der französischen Niederlage und dem Waffenstillstand vom Juni 1940 hatte sich im unbesetzten Süden Frankreichs das Vichy-Regime etabliert, dessen Staatsoberhaupt Marschall Henri Philippe Pétain war – ein Held aus dem Ersten Weltkrieg, der nun mit den Deutschen kollaborierte. Dazu gehörte es auch, die deutsche Kriegswirtschaft mit Arbeitern zu versorgen. Anfang 1943 wurde deshalb der „Service du travail obligatoire“ (STO) gegründet, ein Pflichtarbeitsdienst. Dieser zwangsweisen Verpflichtung fiel auch Jean Cast zum Opfer. Am 4. Juni 1943 kam er in Stuttgart an, vier Tage später begann der gelernte Schreiner seine Arbeit bei Porsche. Obwohl Cast dies alles keinesfalls freiwillig tat, verweigerte ihm die französische Verwaltung nach dem Krieg den Status als Zwangsarbeiter. Stattdessen wurde er als „Zivilarbeiter“ eingestuft. „Das war wohl so, weil er sich damals nicht gewehrt hat“, vermutet Sabine Cast.

Die Arbeiter schliefen auf Holzverschlägen

1943 waren rund 25 000 ausländische Arbeitskräfte in Stuttgart gemeldet. Dabei wurde strikt zwischen West- und Ostarbeitern unterschieden, letztere wurden deutlich schlechter behandelt. Auch in Zuffenhausen: Ostarbeiter kamen in das Lager auf der Schlotwiese, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen hausen mussten. Jean Cast hingegen wurde in einer Baracke an der Strohgäustraße 21 einquartiert – zusammen mit anderen Franzosen, Holländern und Italienern. Versorgt wurden sie dort von „Frau Vetter“ mit ihren beiden Töchtern. Es gab Sauerkraut mit Kartoffeln, ab und zu auch ein Stück Fleisch oder ein Bier. Die Arbeiter schliefen auf Holzverschlägen, je 15 Personen auf schmalen Betten. Auch einen Ofen gab es. In ihrer Freizeit spielten die Männer Karten, rauchten und unterhielten sich. Auf einem Foto von damals ist sogar eine Person mit Geige zu sehen. Die Männer durften spazieren gehen, zeitweise konnten sie auch Urlaub nehmen.

Im Laufe der Zeit erfolgten immer mehr und immer stärkere Luftangriffe. Einen Bunker für Cast gab es zunächst nicht, als Schutz blieb lediglich ein Splittergraben. Im September 1944 ließ Porsche an der Schwieberdinger Straße einen Unterstand bauen, den die Arbeiter gegen Vorzeigen einer Bescheinigung nutzen durften. Bei einem der Angriffe verbrannten einige der Habseligkeiten von Cast, unter anderem sein Ausweis.

Welche Arbeit Jean Cast genau verrichten musste, ist heute nicht mehr genau zu klären. „Er war handwerklich sehr begabt“, erzählt sein Sohn Albert. Als gelernter Schreiner habe sein Vater höchstwahrscheinlich mit Holz gearbeitet und eventuell Panzermodelle angefertigt. „Er hat nie viel erzählt, und ich habe nie viel gefragt. Heute bereue ich das sehr“, sagt Albert Cast.

Befreiiung durch die französische Armee

Eine ganz besonders harte Nuss hatte Sabine Cast für die Zeit kurz vor Kriegsende zu klären: Dokumente und Fahrkarten belegen, dass Jean Mitte April 1945 mit dem Zug von Stuttgart nach Friedrichshafen, dann nach Singen und schließlich wieder zurück nach Zuffenhausen fuhr. Nach Rücksprache mit einigen Historikern kam sie zu folgendem Schluss: Ihrem Schwiegervater gelang es, Porsche zu verlassen und er versuchte, über die Schweiz nach Frankreich zu kommen (der direkte Weg war zu gefährlich). Er wurde an der Grenze aber erwischt und wieder zurück nach Stuttgart geschickt. Dort befreiten ihn dann am 22. April seine Landsleute von der französischen Armee. Am 27. April erhielt er in Paris ganz offiziell seine „carte de repatrié“, also seinen Repatriiertenausweis. zwei Tage später war er wieder daheim in Pertuis, wo seine Eltern auf ihn warteten.

Jean Cast ist nie wieder nach Zuffenhausen zurückgekehrt. „Er hatte die Deutschen nicht so gerne“, erzählt sein Sohn Albert. Für ihn hingegen sei die Vergangenheit „fini“, also beendet. Besonders berührt hat ihn, dass er in Zuffenhausen den Weg gehen konnte, den sein Vater damals täglich lief: Von der Strohgäustraße 21 (heute ist dort ein Parkplatz, die Baracke wurde vor einigen Jahren abgerissen) zum Werk 1, das noch steht. Nun, so sagt Albert Cast, könne er Frieden schließen mit der Geschichte.