In einem Alter, in dem andere in ihrem Beruf so richtig durchstarten, stehen Tänzer häufig vor dem Aus: Nach langer Ausbildung und einer intensiven, aber kurzen Bühnenkarriere müssen sie sich neu orientieren. Ehemalige Tänzer des Stuttgarter Balletts berichten aus ihrem zweiten Leben. Zum Auftakt: Richard Gilmore, Masseur.

Stuttgart - Nach einem Leben, das fast ausschließlich der Kunst gehörte, ist für viele Tänzer das Ende ihrer Bühnenkarriere ein entscheidender Einschnitt in ihrem Leben. Richard Gilmore empfindet die Umstellung, als er vom Tänzer zum Masseur wurde, im Rückblick als nicht so krass. „Ich habe sehr spät angefangen und habe nicht erwartet, ein großer Tänzer zu werden“, sagt Gilmore. Den langjährigen Masseur des Stuttgarter Balletts treffen wir am Ende der Spielzeit in einem kleinen Zimmer im Opernhaus, wo er seine graziösen Patienten behandelt. Vom Ballettsaal nebenan dringen die Klänge von Beethovens 7. Sinfonie herüber, die Uwe Scholz für das Stuttgarter Ballett in Tanz umgesetzt hat.

 

Richard Gilmore, der aus Pennsylvania stammt, kam erst mit 20 professionell zum Tanz; nach seiner Ausbildung tanzte er von 1977 an drei Jahre beim Stuttgarter Ballett. So hatte er vorher genug Zeit, einen alternativen Berufswunsch zu entwickeln. Schon damals dachte er an Massage. Zunächst aber beschäftigte er sich an der Universität mit modernem Tanz und nahm später Ballettstunden. Ein Stipendium erlaubte ihm den Wechsel an die Schule des Harkness Ballets in New York; 1976 tanzte er in Stuttgart vor und wurde in die Kompanie aufgenommen.

„Wenn die Tänzerkarriere nicht klappt, werde ich Masseur“, hatte sich Richard Gilmore vorgenommen. Ein Unfall zwang ihn dazu, diesen Plan 1980 in die Tat umzusetzen. Er absolvierte ein Vorpraktikum im klinischen Bereich in einem Altenpflegeheim und besuchte eine Schule für Massage und Physiotherapie am Katharinenhospital, die es heute aber nicht mehr gibt. Ein Jahr dauerte die theoretische Ausbildung, hinzu kamen noch einmal eineinhalb Jahre Praxis. „Die Ausbildung war viel zu kurz“, sagt er über diese Zeit, „für Physiotherapie braucht man viel mehr.“

Drei Jahre lang arbeitete er im Leuze

Die Schule half ihm jedoch auch dabei, Deutsch zu lernen. Und physiotherapeutische Fähigkeiten eignete er sich an, indem er beim Stuttgarter Ballett Gasttherapeuten über die Schulter sah. „Man sollte sich etwas zurücklegen“, rät er interessierten Tänzern, weil die Ausbildung recht teuer ist. Bevor Marcia Haydée für ihn eine Stelle als Masseur beim Stuttgarter Ballett schaffen konnte, war er drei Jahre am Mineralbad Leuze tätig.

Der Unterschied zur Kompanie? „Das Leuze geht selten auf Tournee“, scherzt der Masseur. Anders das Stuttgarter Ballett: „Ich war in Russland, China, Hongkong und den USA“, sagt Gilmore. „Im Staatstheater treffe ich viele wundervolle Menschen, und ich habe auch Kontakt zu Gastkünstlern“, erzählt er.

Sein Arbeitsalltag ist so hart und lang wie derjenige der Tänzer. Die trainieren acht Stunden am Tag, so lange ist auch Gilmore anwesend oder abrufbereit, ebenso bei Proben, Aufführungen – auch samstags und sonntags: „Die meisten Unfälle passieren am Wochenende.“ Die täglichen Termine vereinbaren die Tänzer spontan, außerdem bietet er zwischendurch seine Dienste an. „Wenn ich Zeit habe, gehe ich in den Ballettsaal und knete Waden“, sagt er. Im Behandlungsraum nützt er Massage, Faszienbehandlung, heiße Packungen und Gelenkmobilisierung und leitet Entspannungsübungen an. Außerdem bietet er Elektrotherapie und Ultraschall. Gerade sitzt die Erste Solistin Hyo Jung Kang neben einem Wasserbottich und fährt mit dem Ultraschallgerät über ihren Fußrücken. Gilmore reibt ihn mit einer Creme ein: „Dann dringen die Ultraschallwellen besser ein.“

Tanzen hilft Menschen, die an Parkinson erkrankt sind

Als Masseur kann er viel von seiner Erfahrung als Tänzer profitieren. So hat er ein gutes Körpergefühl und versteht auch die Psyche der Tänzer besser: „Ich kenne den Drang, beim Tanzen immer alles zu geben.“ Körperlich war für ihn die Umstellung kein Problem: „Ich bin auch als Masseur sehr aktiv.“ Die Massage hinterlässt allerdings etwas Rücken- und Schulterschmerzen und belastet sein Daumengrundgelenk. Ein anderer Berufsnachteil: „Ich habe auch die negative Seite des Balletts erfahren – die vielen Verletzungen“.

Das ist ein Grund, warum bei Richard Gilmores nächstem Lebensabschnitt die Gesundheit im Vordergrund steht. Denn auch im Ruhestand, den der Amerikaner nun antritt, will er aktiv bleiben. Auf einer Tanzmediziner-Tagung hat er Andrew Greenwood kennengelernt, der in Rotterdam Tanzunterricht für Menschen mit Parkinson und MS anbietet. Das möchte Richard Gilmore in Zukunft ebenfalls, weshalb er bereits entsprechende Kurse besucht hat. „Die Therapie wirkt als Ausgleich, und beim Tanzen wird sogar mehr Dopamin produziert als L-Dopa-Tabletten enthalten“, weiß Gilmore. Ob Massage oder Tanz für Patienten, als Ansprechpartner empfiehlt Gilmore Interessierten neben Massage- und Physiotherapie-Schulen Tamed, die Organisation für Tanzmedizin in München. Dort hat er lange im Vorstand gewirkt. Oder man schaut einfach in das Buch „Ballet – und dann?“ der ehemaligen Tänzerin Maja Langsdorff; Gilmore hat es ins Englische übersetzt.