Sie werden für einen Tag zur Servierkraft, schenken Kaffee aus, schmieren Brote oder fegen am Abend die Kirche. Was treibt die Helferinnen und Helfer in der Stuttgarter Vesperkirche an? Fünf Ehrenamtliche berichten.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Wer mit den Helferinnen und Helfern in der Vesperkirche spricht, merkt schnell, dass auch ihnen der Einsatz in der Leonhardskirche gut tut. Viele sind schon über Jahre dabei, andere sind zum ersten Mal mit von der Partie. Was sie eint? Allen ist der gesellschaftliche Zusammenhalt wichtig und dazu wollen sie beitragen.

 

Ursula Imser (72) streicht Brote

Ursula Imser ist nicht zum ersten Mal in der Vesperkirche im Einsatz. Das vierte oder fünfte Mal müsste das jetzt schon sein. Sie kann es gar nicht so genau sagen. Die Aufgaben sind über die Jahre ganz unterschiedliche gewesen. In der Vesperkirche machen die Helfer, was ihnen in der Einführungsrunde um halb elf am Morgen zugeteilt wird. Heute hat Ursula Imser Brote mit Butter bestrichen, Käse oder Schinken zwischen die zwei Scheiben gelegt und das Ganze dann in zwei Hälften geschnitten. Die Brotpakete sind das Vesper, das die Menschen, wenn sie gehen, mit nach Hause nehmen für den Abend.

Wie viele Brote es an diesem Mittwoch waren, Ursula Imser kann es nicht sagen. Danach hat sie noch das Besteck für den nächsten Tag – Messer und Gabel – mit den immer gleichen Handgriffen in eine weiße Papierserviette gewickelt. Zu tun gibt es immer was. Jede noch so kleine Sache muss ja von irgendjemanden erledigt werden. Denn die Vesperkirche kann nur dann reibungslos funktionieren und gelingen, wenn die vielen kleinen Arbeiten gemacht sind, die sich dann zum große Ganzen der Vesperkirche addieren.

Ursula Imser kommt aus dem Remstal nach Stuttgart zu ihrem Arbeitseinsatz. Die 72-Jährige, die mal Lehrerin an einer Förderschule war, ist Mitglied im Kiwanis-Club, ein Zusammenschluss, der sich für das Wohl von Kindern und der Gesellschaft allgemein einsetzt. Zu dritt sind die Kiwanis-Frauen angereist. Beim Besteckeinwickeln ist Zeit für Gespräche. Das ist der angenehme Nebeneffekt.

Sie weiß, dass ihr Einsatz nicht an die strukturellen Ursachen der Armut geht. „Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt sie. Aber vielleicht macht es ja für ein paar hundert Menschen heute einen Unterschied zu sonst. „Um ehrlich zu sein“, sagt Imser, „mache ich das auch für mich“. Am Abend wird sie mit dem Gefühl nach Hause fahren, dass „der Tag sinnvoll verbracht war.“

Johanna Haag-Rumpe (66) schenkt Kaffee aus

Der Wechsel in den Ruhestand und die Suche danach, was sie ehrenamtlich tun könne, waren für Johanna Haag-Rumpe (66) ein Schritt. Die ausgebildete Grundschullehrerin hat die meiste Zeit ihres Lebens als Hauptschullehrerin gearbeitet. Ausgestattet mit einem guten Ruhestandsgeld als Beamtin war ihr klar: „Ich will etwas zurückgeben“. Im Diakonissenkrankenhaus macht sie Begleitdienste und Sitzwachen. Über eine Freundin kam sie dieses Jahr hierher.

Ihr erstes Mal in der Vesperkirche „hat sie schwer beeindruckt“. Dass sie erlebt hat, wie höflich Menschen nach einer weiteren Scheibe Brot fragen. Und überhaupt: wie knapp Brot offenbar in vielen Leben ist. „Mich überzeugt das Konzept“, sagt die ehemalige Lehrerin. Die würdevolle Begegnung. „Dass die Menschen nicht anstehen müssen, sondern das Essen am Platz serviert bekommen und richtig gut behandelt werden.“ Und dann ist da natürlich, was wahrscheinlich viele Ehrenamtler eint: man bekommt Einblicke in ganz andere Bereiche des Stadtlebens, die einem sonst verschlossen sind.

Reiner Bauer (66) bedient an der Essen-To-Go-Klappe

Für Reiner Bauer ist es der zweite Einsatz, seit er im Ruhestand ist. Der 66-Jährige war im Verwaltungsdienst bei der Polizei, wohnt im Remstal, hat Familie mit vier Enkelkindern. Er wäre also durchaus ausgelastet. „Aber es war mir wichtig, ehrenamtlich etwas zu tun“, sagt er – und spricht damit wahrscheinlich dem Gros der Helfer aus der Seele. Schon während er noch berufstätig war, war Bauer bei der einen oder anderen Kulturveranstaltung der Vesperkirche. Und dann kam die Rente, und die Zeit war einfach reif.

Das Engagement in der Stuttgarter Vesperkirche ist nicht sein einziges Ehrenamt. Offensichtlich gilt auch für Bauer, was viele erzählen: Ein Ehrenamt kommt selten alleine. Er hat während der Corona-Hochphase älteren Mensch geholfen, sich über das Internet für einen Impftermin anzumelden. Und im vergangenen Frühjahr gab er in der Schleyerhalle Essen für ukrainische Flüchtlinge aus. „Ich bin versorgt, mir geht es gut. Da kann ich doch auch etwas zurückgegeben“, sagt er auf die Frage, warum er sich heute wieder die Schürze umgebunden hat. Was bringt es ihm? „Die innere Befriedigung, etwas getan zu haben, in dem ich einen Sinn sehe.“

Eine Schicht hat er die To-Go-Essensausgabe bedient, also die Klappe nach draußen. Er hat zusammen mit einer weiteren Helferin geschöpft, verteilt und verpackt. Er ist dabei manchen Menschen begegnet, die gleich zwei Essen mitgenommen haben: für den Ehemann oder die Ehefrau zuhause. An der Mitnahmetheke, so Bauers Beobachtung, kommen mehr Alte als Junge.

Er weiß, dass er mit seinem Einsatz nicht am großen Rad drehen kann. Aber er wünscht sich, „das mancher der Besucher zufriedener aus der Vesperkirche geht, als er hereingekommen ist“. Wenn das glückt, „ist das eigentlich schon Sinn, Zweck und Befriedigung genug“, sagt Reiner Bauer. Dann merke man auch, dass gesellschaftlich doch noch was geht und nicht jedem alles egal ist.

Alina Salzinger (29) fegt die Kirche

Alina Salzinger arbeitet bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse Baden-Württemberg (AOK). Dort leitete sie den Bereich Ausbildung und Studium. Zuvor hat sie viele Jahre in Servicecentern vor Ort im direkten Kundenverkehr gearbeitet. Hätte sie nicht mit einer Kollegin getauscht, wäre sie jetzt eigentlich mit ihren Lehrlingen da. Aber so ist sie heute als einzige AOK-Vertreterin im Einsatz. Die Krankenkasse entsendet seit Jahren Mitarbeiter in die Stuttgarter Vesperkirche.

Es geht auf drei Uhr am Nachmittag zu. Die Vesperkirche neigt sich ihrem Ende zu. Die Reihen leeren sich. Die 29-Jährige hat einen Besen in den Händen und fegt hinter der Ausgabetheke für den Kaffee. Zuvor hat sie die Gäste schon am Platz bedient, Brote fürs Vesper geschmiert und Besteck für den nächsten Tag in Serviettenpapier verpackt. Ihre Arbeitszeit bei der AOK beginnt, wenn die Vesperkirche schließt. „Ich werde in den Abend reinarbeiten“, sagt Salzinger. Ihr Arbeitgeber ermöglicht es ihr, zusätzlich ehrenamtlich zu arbeiten. Denn da werden sie und ihre Kollegen eben auch gebraucht. Ein Ehrenamt, vereinbar mit der Arbeit, das habe sie angesprochen.

Aus ihrer Zeit in den Servicecentern weiß Alina Salzinger, wie schnell es bei Erkrankungen „um die Existenz gehen kann“. Das könne einen dann von einem Tag auf den anderen völlig aus der Bahn werfen. Für sie sind die Stunden in der Vesperkirche deshalb auch die Chance, innezuhalten und mit anderen Augen auf die Welt zu schauen. „Das erdet einen einfach – und macht dankbar.“

Alina Salzinger ist überzeugt: Helfen hilft auch dem Helfer. „Ich kann nur dazu animieren, sich einen Tag im Jahr dafür zu reservieren. Das tut anderen gut und einem selbst.“ Außerdem gehe sonst gesellschaftlich irgendwann gar nichts mehr. Wo, sagt sie, könne man Empathie besser entwickeln als in der direkten Begegnung mit Menschen – auch mit Blick auf ihre Auszubildenden.

Lars Rauss (41) liefert das Essen an

Lars Rauss könnte jetzt auf Weltreise sein. Sabbatjahr, das klingt nach Abenteuer, Reisen oder Nichtstun. Der 41-Jährige will es anders angehen. Mit Beginn des laufenden Schuljahrs hat sich der Physik- und Englischlehrer von seinen Schülern verabschiedet. Sein Ziel in der arbeitsfreien Zeit: Er will Menschen treffen, manche aus seinem Leben nach Jahren auch wiedertreffen, Freundschaften pflegen und sich um seine Familie intensiver kümmern. „Man kann Leute im Leben verlieren, ohne sich mit ihnen zu verstreiten.“

Weil er aber, wie er findet, „den unglaublichen Luxus hat, ein Jahr nicht arbeiten zu müssen und trotzdem Geld zu bekommen, kann man ja in der Zeit auch was tun“. Ihn treibt das Gefühl an, sich schon als Kind immer irgendwie vom echten Engagement freigekauft zu haben. Damals habe er sich bei sein Mutter Geld geholt hat, „und es jedem Bettler gegeben“, der seine Aufmerksamkeit erregte. Später waren es dann die eigenen Euros, die er gegeben hat. „Das ist eine relativ einfache Sache, um sich ein gutes Gewissen zu erkaufen.“

In der Vesperkirche will er es einmal anders versuchen. Er glaubt zwar nicht, in den zwei Tagen seines Einsatzes die Welt zu verändern. „Aber es ist ein Anfang“, sagt Rauss. Er hat jetzt das Essen im Rudolf-Sophien-Stift abgeholt, wo es zentral gekocht wird. Dann noch Stullen verpackt. Gedanklich ist er heute auch bei seinen Schülern. „Ich überlege, ob das nächstes Jahr etwas für sie sein könnte.“ Dabei ist es nicht unbedingt der kürzeste Weg vom Ganztagsgymnasium Osterburken nach Stuttgart. Aber die Stuttgarter Vesperkirche wirkt offenbar nachhaltig. In der eigenen Schulzeit in Herrenberg war es sein Religionslehrer, der mit der Klasse hierher kam. Lars Rauss war damals nicht dabei. „Aber die Vesperkirche ist mir nicht aus dem Sinn gegangen.“ Mehr als 20 Jahre später ist er da.