Der Vorstandsvorsitzende der Stuttgarter Versicherungsgruppe, Frank Karsten, sieht im Interview in der alternden Gesellschaft Chancen.

Stuttgart - Zum vierten Mal ehren am heutigen Montagabend die Stuttgarter Versicherungsgruppe und die Stuttgarter Zeitung im Rahmen einer Veranstaltung für geladene Gäste die diesjährigen Stuttgarter des Jahres. Für den Juror Frank Karsten, Vorstandsvorsitzender der Stuttgarter Versicherungsgruppe, ist das Ehrenamt der soziale Kitt in der Gesellschaft.

 
Zum vierten Mal sind Sie Juror bei der Benefiz-Aktion Stuttgarter des Jahres. 30 Menschen wurden bisher geehrt. Am heutigen Montagabend kommen weitere zehn dazu. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Ich war überrascht, mit welchem Engagement sich die Preisträger für das Ehrenamt einsetzen. Das gilt auch für viele, die wir nicht ehren konnten. Es war mir nicht klar, wie breit das Thema Ehrenamt angelegt ist und wie viele Aufgaben es gibt, bei denen man sich engagieren kann.
Gibt es ein Engagement, das Sie besonders beeindruckt hat?
Ich glaube, es ist nicht richtig, einen Einzelnen herauszuheben. Dennoch war für mich ein Gewinner bemerkenswert: Im Jahr 2015 haben wir Peter Schad zum Stuttgarter des Jahres gekürt. Er sammelt jeden Abend nach der Arbeit in Bäckereien das nicht verkaufte Brot ein und verteilt es an Bedürftige. Er ist dabei ganz auf sich gestellt und zieht das seit Jahren durch.
Welchen Einfluss hat das Ehrenamt Ihrer Ansicht nach auf die Stadtgesellschaft?
Das ist nicht nur ein Thema der Stadtgesellschaft. Ehrenamtliche Arbeit gibt es auch auf dem Land, und auch da ist sie wichtig. Das Ehrenamt ist der soziale Kitt in der Gesellschaft. In der Vergangenheit waren familiäre und freundschaftliche Bande deutlicher ausgeprägt. Wenn früher ein Kind krank war, sprangen die Großeltern ein. Heute wohnen die oft weit weg. Die Welt hat sich verändert. Die Menschen leben einsamer. Es gibt einen stärkeren Anteil von Einpersonenhaushalten und älteren Leuten. Diese sind in kritischen Situationen oft auf sich gestellt. Wenn wir deshalb Menschen ehren, die zum Beispiel Bewohner in Altenheimen besuchen, dann haben diese das mehr als verdient.

Wenig Vorschläge aus klassischen Bereichen

Hat der Ehrenamtspreis Stuttgarter des Jahres Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Mitarbeiter in Ihrem Haus?
Was die Stuttgarter Zeitung und wir jetzt gemeinsam machen, haben wir zuvor als Unternehmensprojekt angestoßen. Unsere Mitarbeiter haben abgestimmt, wessen Engagement besonders der Ehre wert ist. Die Mitarbeiter mit den meisten Stimmen haben den Preis nicht persönlich bekommen. Das Geld floss in das jeweilige Projekt. Das konnte ein Fußballverein sein oder ein Engagement im Streetworking. Außerdem ist es interessant, dass die Berichterstattung zum Thema Ehrenamt dazu führt, dass sich Mitarbeiter stärker engagieren. Beim Führungsnachwuchskreis der Stuttgarter Versicherungsgruppe haben wir beschlossen, dass sich jeder Kollege ein ehrenamtliches Projekt sucht. Das zeigt auch, dass es den Menschen nicht egal ist, wie es anderen geht, gerade dann nicht, wenn man sich in ausgewogenen und finanziell gut konsolidierten Arbeitsverhältnissen befindet.
Haben Sie sich selbst schon ehrenamtlich engagiert? Oder tun Sie es womöglich noch?
Ich mache heute ehrenamtlich nichts. Mit drei Kindern und dem Einstieg in den Beruf hatte und habe ich nicht den Freiraum. Da nun die Haare grauer werden und irgendwann auch das Ende des Berufslebens absehbar ist, ist das ein Thema, mit dem ich mich beschäftige. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, in der Grundschule Mathe-Nachhilfe zu geben, zumal meine beiden Töchter Grundschullehrerinnen sind.
Das Thema Zuwanderung beherrscht die Diskussion. Verliert das ganz normale Ehrenamt deshalb an Bedeutung?
Nein. Wir haben als Gesellschaft in den vergangenen 24 Monaten insgesamt den Fehler gemacht, dass wir uns zu sehr auf das Flüchtlingsthema fokussiert haben. Es ist nicht so, dass in anderen Bereichen keine ehrenamtliche Tätigkeit stattfindet. Das werden wir am heutigen Montagabend bei der Benefizgala zum Stuttgarter des Jahres sehen. Da sind etliche Preisträger dabei, die mit dem Flüchtlingsthema gar nichts zu tun haben.
Glauben Sie, dass die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement nachlässt?
Hier müssen sich auch die Medien fragen, ob sie nicht zu viel über das Thema Flüchtlinge berichtet haben und zu wenig über anderes ehrenamtliches Engagement. Ich bin überrascht, dass aus den klassischen Bereichen so wenig Vorschläge gekommen sind, sei es für das Engagement in der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Roten Kreuz. Solche Organisationen wären ohne Ehrenamt nicht funktionsfähig. Die Menschen verbringen dort einen großen Teil ihrer Freizeit, schlagen sich die Nächte um die Ohren, ohne dafür einen Cent zu sehen. Derzeit wird das Ehrenamt von Menschen getragen, die entweder noch nicht voll im Berufsleben stehen oder dieses bereits hinter sich haben. Wir erleben, dass die Generation der Baby-Boomer jetzt langsam in Rente geht. Da haben wir ein Riesenpotenzial. Und die Leute sind körperlich und geistig länger fit als die vorangegangenen Generationen. Ich glaube, dass die Gesellschaft da eine große Chance hat.