Zehn Tage lang prägt das Festival Jazz Open das Stadtbild an sehr unterschiedlichen Orten und auf sehr unterschiedliche Weise, wie ein Rundgang zeigt von der Domkirche über die Spardawelt zum Schlossplatz und in den Jazzclub Bix.

Stuttgart - Die Liebe, ach, die Liebe. Viel ist von ihr die Rede, seitdem es Menschen gibt – und oft meinen sie nicht dasselbe, denn ein weites Feld liegt zwischen zwischen Selbstliebe und selbstloser Liebe. Um letztere geht es am Donnerstagnachmittag in der Stuttgarter Domkirche, die zum dritten Mal als Spielort für ein eintrittsfreies Jazz Open-Konzert dient: Beide, die Kirche wie das Festival, stünden für eine Gesellschaft, „in der nicht Hass und Ausgrenzung regieren“, sagt der Stadtdekan Christian Hermes. Er zitiert Thesen des Apostels Paulus über die Liebe, ohne die für ihn alles nichts ist, und erzählt die Geschichte vom Samariter.

 

Die stimmstarke Sängerin Fola Dada, längst eine feste Größe über die Stuttgarter Szene hinaus, interpretiert mit großem Herz Stücke wie „You got a Friend“ von James Taylor, und die Besucher der prall gefüllten Domkirche singen den Refrain im Chor mit. Der Blues-beseelte Organist Martin Meixner begleitet, zieht alle Register und geht für ein Stück sogar an die große Kirchenorgel. Eine frohe Botschaft breitet sich da in den Herzen aus in dunklen Zeiten, nirgends kommt das Festival den Menschen näher als hier – es ist ein bunter Querschnitt jener Bürgergesellschaft, für die das Herz der Stadt mehr ist als ein Einkaufszentrum.

Es gibt noch Kunst um der Kunst Willen

Jazz Open bestimmt zehn Tage lang das Bild, an jedem Spielort anders. Wer versucht, die Spardawelt hinterm Hauptbahnhof ohne Auto zu erreichen, stapft von der Klettpassage auf verschlungenen Pfaden an Zäunen entlang, vorbei an der Baustelle, die die Stadt beinahe zerrissen hätte. Im dahinter liegenden Finanzgewerbegebiet hält der Festival-Sponsor die Fahne des Jazz hoch. Am Donnerstag zeigen im geschäftsmäßigen Ambiente des Spardawelt Eventcenters der israelische Trompeter Avishai Cohen, der US-Saxofonist Chris Potter und der panamaische Pianist Danilo Pérez, was Avantgarde bedeutet: Ausgetretene Pfade verlassen, den anderen Klang wagen, Konventionen sprengen. Was Cohen seinem Horn entlockt an Melodien und Klängen, macht sprachlos. Es gibt sie noch, die Künstler, die gar nicht anders können, als Kunst nur um ihrer selbst Willen zu betreiben – und der SWR tut, was er lange nicht getan hat: Er knüpft an seine große Jazz-Tradition an und zeichnet solche Konzerte wieder auf.

Die Haupteinnahmequelle des Festivals ist der Ehrenhof des Neuen Schlosses, hier funkeln die Pop-Sterne. Seinen Hit „I need a Dollar“ intoniert am frühen Abend der Gute-Laune-Soulpop-Sänger Aloe Blacc, und er spricht vielen aus der Seele – den Senioren, die in den Mülleimern jenseits der Absperrung nach Leergut graben, und denen, die sich die Konzertkarte geleistet haben, obwohl sie ihre Miete kaum noch bezahlen können. Nach der Absage des großen Sting sind viele Plätze freigeblieben, das Publikum hatte wohl zu wenig Zeit, sich mit der kurzfristig verpflichteten britischen Sängerin Emeli Sandé zu beschäftigen. 2000 Besucher statt 6000 – wie steckt ein Festival das weg? „Das ist wirtschaftlich tragbar“, sagt der Jazz Open-Chef Jürgen Schlensog am Tag danach, „und ich würde es wieder so machen. Die Bühne leerzulassen mitten im Festival entspricht nicht unserem Anspruch.“ Ein paar mehr hätten es natürlich sein dürfen, das Regenwetter schreckte sicher auch manchen ab. „Ab 18 Uhr war es sonnig und es sind noch Leute gekommen“, sagt Schlensog. „Besonders hat mich gefreut, dass etliche junge Besucher da waren, die gesagt haben: Zu Sting wären wir nicht gekommen, da gehen unsere Eltern hin.“

Frauen erobern sich Männerdomänen

Auf dem Weg ins Leonhardsviertel liegt unter einer Glocke aus Frutti-di-Mare-Dunst der Fischmarkt; angesichts der hier verarbeiteten Mengen kann man nur staunen, was die Meere noch hergeben. Durch den Steingarten namens Dorotheenquartier gelangt man ins Milieu-Viertel, in dem die Stadt noch ein bisschen sie selbst ist. Vier Spanierinnen namens Las Migas stehen auf der Bühne im Jazzclub Bix, in dem das ganze Jahr über die Welt zuhause ist. Mit zwei Gitarren, Gesang und Geige spielen die sympathischen Senoras Flamenco und erobern sich eine Domäne, die bis auf den Tanz traditionell Männern vorbehalten war – und die Sängerin Bego Salazar aus Almería brennt förmlich, wenn sie mit mächtigem Organ und feurigem Gestus andalusischen Herzschmerz zelebriert.

Zum Tagesausklang folgt dann ein Naturereignis: Die irische Sängerin Camille O’Sullivan trägt ihr Herz auf der Zunge und gibt sich bei Konzerten immer ganz hin. Dem lasziven Moulin-Rouge-Teil ihrer Show ist sie entwachsen, nun singt sie sich ganz pur die Seele aus dem Leib. Sie springt, gestikuliert anmutig, schwingt die Beine, schüttelt ihr Haar und forscht mit heiserer Stimme nach den tieferen Bedeutungen in Songs von Nick Cave („Ship Song“), Bob Dylan („Simple Twist of Fate“), Leonard Cohen („Chelsea Hotel“) und David Bowie („Five Years“). Jacques Brels „Port d’Amsterdam“ intoniert sie ganz alleine – intensiver kann dieser Seemanns-Chanson kaum werden. „God is in the House“ von Nick Cave bietet O’Sullivan zum Schluss mit ihrer Band dar, ein Lied über naive Kleinstädter, die die Liebe an eine höhere Macht delegieren, statt sie einfach zu praktizieren. So wie die Sängerin selbst: Fröhlich und aufgedreht umarmt sie nach dem Konzert am Ausgang jeden einzelnen Besucher, der es zulässt. Der Apostel Paulus lässt grüßen.