Ein Jahr nach den Unruhen von Ferguson zeigt sich: Bürger und Politiker in den Vereinigten Staaten nehmen den Kampf gegen den traditionellen Rassismus auf. Auch der Präsident verfolgt nun eine neue, konsequentere Linie.

Ferguson - Man hatte es nicht schwer als Reporter in Ferguson in den Tagen nach dem 9. August 2014. Die Menschen der mehrheitlich schwarzen Vorstadt von St. Louis  ließ sich nicht bitten,  ihre Geschichte zu erzählen. Im Gegenteil, es sprudelte so aus ihnen heraus, so dankbar waren sie, dass man ihnen endlich  zuhört.   So wie der 30 Jahre alte Darren Seals, ein Nachbar von Michael Brown – jenes Teenagers, der an jenem verhängnisvollen Nachmittag des 9. August von Polizeioffizier Darren Wilson mit zwölf Schüssen nieder gestreckt wurde. „Das war kein Unfall“, sagte Darren Seals. „Das ist unser Alltag hier.“ Jeder, der in Ferguson aufgewachsen ist, so Seals, ist eng vertraut mit willkürlicher, schikanöser Polizeigewalt.

 

  Deshalb wollten die Einwohner von Ferguson auch keine Ruhe geben. Sie gingen auf die Straße, Abend für Abend und mit ihnen zunehmend auch Menschen in anderen Städten der USA.  Auch der martialische Aufmarsch der Staatsgewalt mit Panzerwagen und Gefechtsausrüstung brachte sie nicht davon ab.  Man hatte zu lange nichts gesagt. Jetzt war es genug.   Die Standhaftigkeit der Menschen von Ferguson, ihr Trotz ließ die Nation aufhorchen, ja die ganze Welt. Die unverhohlene Verzweiflung und der Zorn nicht nur über rassistisch motivierte Polizeigewalt, sondern über einen institutionellen Rassismus, der noch immer das Leben von Millionen von Afroamerikanern bestimmt, rüttelte ein Land auf, das sich nach der Wahl von Obama zum Präsidenten in einem postrassistischen Paradies wähnte.

Die warnenden Stimmen wurden überhört

  Natürlich gab es sie auch schon vor Ferguson, die Stimmen, die trotz Obama einen tief sitzenden, schier unausrottbaren Rassismus in den USA beklagten. Doch sie blieben meistens marginal, wurden als radikal und extrem abgetan. Zu einer schonungslosen nationalen Selbstreflexion, wie der, die seit Ferguson eingesetzt hat, hatte es nie gereicht.   Dabei hätte die Nation schon lange vor Ferguson in den Spiegel schauen können, wenn sie nur gewollt hätte. So veröffentlichte die Soziologin Michelle Alexander im Jahr 2010 ein in Intellektuellenkreisen viel beachtetes Buch mit dem Titel „The New Jim Crow“. Darin behauptet sie provokativ, dass es Schwarzen in den USA nicht besser, sondern schlechter geht als vor der Bürgerrechtsbewegung.

Das alte Apartheids-System des Südens, im Volksmund „Jim Crow“ genannt, hat sich lediglich neue Bahnen gesucht.   Als Beleg nahm Alexander etwa die schockierenden Inhaftierungszahlen der Afroamerikaner, die „weit über der Zahl der schwarzen Sklaven vor dem Bürgerkrieg“ liegen. Sie nahm die Armuts- und Arbeitslosenziffern, die unter Afroamerikanern doppelt so hoch liegen wie im nationalen Durchschnitt. Und sie sprach über die Ghetto-Bildung und die Perspektivlosigkeit der verzweifelten schwarzen Unterschicht.   Doch die Nation wollte das nicht hören, man glaubte lieber an die Erzählung, die nicht zuletzt auch Barack Obama kolportierte, dass es zwar noch Dinge zu verbessern gäbe, dass die USA aber enorme Fortschritte in den Rassenbeziehungen gemacht habe. Der beste Beleg dafür, sei er selbst.  

Bequeme Sichtweise für den weißen Mainstream

Es war eine bequeme Sichtweise für den weißen Mainstream Amerikas. Wer behauptete, Amerika sei noch immer zutiefst rassistisch, wurde insbesondere aus der konservativen Ecke selbst als Rassist denunziert.  Wer weiter über Rassismus klagt, so die verquere Logik, verharre in einem längst überwundenem Denken von Schwarz und Weiß.   So wurden Fälle von eklatanter Polizeigewalt gegen Afroamerikaner auch als extreme Einzelfälle abgetan. Als im Jahr 2012 der unbewaffnete Teenager Ramarley Graham in der Bronx in seinem eigenen Badezimmer von Polizisten erschossen wurde, schaffte es der Vorfall nicht einmal in die nationalen Nachrichten. Der  darauf folgende Protest gegen die systematische Polizeiwillkür in New York unter dem Vorwand der öffentlichen Ordnung und Sicherheit blieb ebenfalls ein lokales Thema.  

Durch den Tod von Michael Brown und die Proteste danach ließ sich das Problem der systematischen Polizeigewalt im Land jedoch nicht mehr leugnen. Alleine in den vier Wochen vor der Erschießung von Brown starben in den USA mindestens vier Afroamerikaner durch wahllose, unbegründete staatliche Gewaltanwendung.  Im Schein der Feuer von Ferguson ließen diese Fälle sich nicht mehr unter den Teppich kehren.   Seither hat sich die Selbstwahrnehmung Amerikas dramatisch gewandelt. In diesem Juli glaubten bei einer Umfrage 68 Prozent der Amerikaner, dass es um  die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß im Land schlecht bestellt sei. Kurz nach der Amtsübernahme Obamas glaubten ebenso viele Amerikaner, dass das Verhältnis zwischen den Rassen gut sei. 80 Prozent glauben heute, dass sich die Rassenbeziehungen verschlechtern oder zumindest nicht verbessern.   Auch die Obama-Regierung selbst beginnt sich immer stärker für die Themen zu engagieren, die dem schwarzen Amerika auf der Seele brennen.

Obama bekennt sich zu seiner kulturellen Identität

Bis Ferguson scheute sich der erste schwarze Präsident noch davor, von der Wählerschaft als Verfechter schwarzer Partikularinteressen wahrgenommen zu werden. Seither spricht er eine immer deutlichere Sprache.   So sagte Obama nach Ferguson, dass Michael Brown auch sein Sohn hätte sein können. Nach dem jüngsten Massaker in einer Kirche in South Carolina besuchte er eine schwarze Kirche in Charleston und stimmte mit der Gemeinde eine Hymne an – eine Geste, die er noch ein Jahr zuvor nicht gewagt hätte, weil sie ein klares Bekenntnis zu seiner kulturellen Identität als Schwarzer war. Und in Washington setzt er sich massiv für eine Reform des Gefängniswesens und des Strafrechtssystems ein, das als großes Hindernis für die Integration der schwarzen Unterschicht gesehen wird.   So hat Amerika nach Ferguson  erstmals seit den 60er Jahren die Chance etwas zu verändern. Die Hoffnung, dass dies möglich ist, hält sich angesichts der Größe der Aufgabe jedoch in Grenzen.

So erklärte etwa der schwarze Journalist Ta-Nehisi Coates in seinen gerade erschienen Memoiren, die zum Bestseller wurden, dass er an Amerika verzweifele. Das Land und die Unterdrückung seiner schwarzen Minderheit, glaubt Coates, ließen sich nicht voneinander trennen. Und doch haben Schwarz und Weiß keine andere Wahl, als besser miteinander zurecht zu kommen als in der Vergangenheit.