Zum seinem 111. Geburtstag wollten die Konstanzer Narren einen ihrer wichtigsten Komponisten mit einer Gala ehren. Jetzt wird klar: Bevor Willi Hermann Schunkellieder dichtete, verfasste er im Dritten Reich übelste Nazipropaganda. Was nun?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Konstanz - Die Vorstellung ist wunderbar und politisch völlig unverdächtig: „Ja, wenn der ganze Bodensee ein einzigs Weinfass wär“, singen die Konstanzer am Ende jeder Fasnachtssitzung. Wenn sich die Narren im Konzil unterhaken, ist auch das SWR-Fernsehen live dabei und überträgt bundesweit. Doch ob zu der bekanntesten Hymne der Konstanzer Fasnacht auch in der kommenden Saison geschunkelt wird, ist ungewiss. Selbst Mario Böhler, der Präsident der Narrengesellschaft Niederburg und damit so etwas wie der Obernarr, weiß es nicht. „Ich kann mir schwerlich vorstellen, diese Lieder einfach so weiterzusingen“, sagt der 29-Jährige.

 

Es sind die Enthüllungen über das Leben des Konstanzer Fasnachtskomponisten Willi Hermann, die den Narren die Lust am Singen genommen haben. 111 Jahre alt wäre er in diesem Jahr geworden. Zwei Jubiläumskonzerte zu Ehren der Konstanzer Fasnachtsikone hatten die Niederbürgler geplant. Ende November sollten dafür zahlreiche aktuelle Fasnachtsstars zusammen mit der Südwestdeutschen Philharmonie auf der Konzilsbühne auftreten. Drei Jahre habe man am Konzept gearbeitet, sagt Böhler. Doch ihm sei sofort klar gewesen, dass die Konzerte im Lichte der neuen Erkenntnisse nicht stattfinden könnten.

Die Personalakte von Willi Hermann. Foto: Bundesarchiv
Der Konstanzer Stadtarchivar Jürgen Klöckler blickt auf eine Personalkarte vor sich auf dem Tisch, die all die Jahre im Bundesarchiv in Berlin überdauert hat. Sie weist Hermann, Wilhelm, geboren am 23. November 1907 in Stockach, gottgläubig und von arischer Abstammung, als Mitarbeiter des Reichsschulungsamts aus. In von ihm erstellten Schulungsunterlagen schärft er das „Deutschbewusstsein“: „Drohende Rassenvermischung, sinkender Rassenstolz, kultureller und politischer Niedergang“ seien die Gefahren durch das Judentum. Mit dieser Botschaft war er in ganz Baden als Referent unterwegs, offenbar zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten: Hermann sei „sehr gut als Redner“ und „absolut gefestigt im Sinne der NSDAP“ heißt es in einem Begutachtungsbogen. Nach dem Krieg entnazifizierte der Propagandaredner sein völkisches Vokabular und reüssierte als volkstümlicher Fasnachtsdichter.

Der Stadtarchivar recherchierte für eine Festschrift

Eigentlich hatte Klöckler Informationen für eine Festschrift sammeln sollen. Nun fand er heraus, dass Hermann als Soldat in eines der schwersten Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verwickelt war. Nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg war sein Bataillon 1943 auf der griechischen Insel Kefalonia von italienischen Soldaten entwaffnet worden. Als kurz darauf eine berüchtigte Gebirgsjägerdivision die Deutschen befreite, wurden Hermann und seine Kameraden von den Gebirgsjägern als „Feiglinge“ beschimpft und aufgeteilt. Dann kam die blutige Rache. „Wir rückten gruppenweise zwischen den Gebirgsjägern vor“, räumte Hermann in einem Ermittlungsverfahren in den 60er Jahren ein. An Erschießungen konnte er sich da nicht mehr erinnern. Das Verfahren wurde eingestellt. Wie man weiß, verloren mehr als 2500 Italiener, die sich bereits ergeben hatten, ihr Leben. „Nach heutiger Rechtssprechung wäre er wegen Beihilfe zum Mord dran“, sagt Klöckler.

Hermann galt als glänzender Büttenredner

In Konstanz, wo sich Hermann 1949 „nach langer Kriegsgefangenschaft“ niederließ, wie es 1977 in einem Nachruf ebenso nichts- wie vielsagend hieß, begann er ein kleinbürgerliches Leben als Arbeiter in der Textilindustrie. Nur während der Fasnacht trat er in Erscheinung, dann aber gewaltig. Sein Werk sei als „Versuch der Selbsttherapie eines traumatisierten NS-Täters“ zu deuten, glaubt Klöckler.

Er sei eine „stattliche Persönlichkeit und ein glänzender Büttenredner“ gewesen, erinnert sich der Programmchef der Niederbürgler und Ex-Präsident Heinz Maser. Nicht nur in Konstanz hinterließ Hermann Spuren. Selbst auf der anderen Seite der Grenze sind die Narren jetzt in Nöten. Den Ermatingern, die jedes Jahr drei Wochen vor Ostern die „letzte Fasnacht der Welt feiern“, hat er ihr Groppenlied gedichtet. Von „echtem Narrenblut“ ist darin die Rede. „In Kenntnis, dass er ein NS-Verbrecher war, bekommt so etwas einen ganz anderen Zungenschlag“, sagt der Präsident Rico Thurnheer.

An Hermanns Vorleben wurde nicht Anstoß genommen

Auch seiner Heimatstadt Stockach hat Hermann ein populäres Lied gewidmet. 1961 wurde er dort ins grobgünstige Narrengericht aufgenommen. „Offenbar war das damals eine noch konservativere Angelegenheit als heute“, urteilt der Konstanzer Museumschef und Fasnachter Tobias Engelsing. An Hermanns Vorleben stieß sich keiner. Dabei dürfte es bestens bekannt gewesen sein. Hermann war dort vor dem Krieg als Nazi und als Narr aktiv gewesen. Sein Vater war NS-Bürgermeister. 1938 stolperte er über eine Korruptionsaffäre.

Auch jetzt will man in Stockach Hermanns Liedern die Treue halten. Man solle nicht all jene, die „unbedarft, vorbehaltlos und in launiger Runde Fasnachtslieder singen, in die Nähe einer Ideologie rücken“, erklärt der oberste Narrenrichter Jürgen Koterzyna. In Konstanz ist eine endgültige Entscheidung noch nicht gefallen. Denn natürlich haben sich die Verse längst verselbstständigt. Hermanns Namen kennt kaum jemand, aber seine Lieder „werden in den Kneipen gesungen. Jede Lumpenkapelle hat das drauf“, sagt der Narrenpräsident Böhler. Deshalb suche man den Dialog mit der Bevölkerung. Eine Podiumsdiskussion ist geplant. „Wir brauchen neue Lieder“, fordert der Museumschef Engelsing unterdessen. Es gibt aber auch überlieferte Verse unverdächtiger Protagonisten. Ein Lied passt gut zu Hermanns Fall: „Gell, du kennsch mi it, du weisch it, wer i bin.“