Weil es zu wenig Mint-Lehrer gibt, müssen viele Schulen improvisieren. Ein Diplommathematiker sprang an einem Stuttgarter Gymnasium ein – und erlebte im Umgang mit dem Regierungspräsidium sein blaues Wunder.

Stuttgart - Weil es zu wenig Mint-Lehrer gibt, müssen viele Schulen improvisieren. Bereits zu Schuljahresbeginn konnten an Gymnasien und beruflichen Schulen nicht alle Lehrerstellen besetzt werden. Kommt dann noch eine Krankheitswelle dazu, fällt meist Unterricht aus, oft im Fach Mathe. Immer wieder beschweren sich Eltern, die ihre Kinder deshalb unzureichend auf Prüfungen vorbereitet sehen. So war es auch zu Beginn dieses Jahres – unsere Zeitung berichtete über massive Engpässe in Stuttgart. Dieser Bericht veranlasste Dieter Müller (Name geändert) zu helfen. „Ich bin Diplom-Mathematiker, habe Erfahrung in der Lehre an Hochschulen und bin zeitlich flexibel“, sagte sich der Mittfünfziger und meldete sich online im Vertretungspool des Kultusministeriums für den Einsatz an einer Schule. Seit 11. Mai unterrichtet er Fünftklässler am Hegel-Gymnasium in Vaihingen in Mathe – „mit großer Freude“, wie er betont. Auch Schulleiterin Barbara Graf ist begeistert: „Die Schüler sind glücklich – und uns ist total geholfen.“ Dennoch hat Dieter Müller die Nase so voll, dass er künftig nicht mehr einspringen will. Grund sei die Kommunikation mit dem Regierungspräsidium (RP). Diese sei „eine Katastrophe“.

 

„Wie der Kontakt mit Außerirdischen“ sei ihm der Umgang mit dieser Behörde vorgekommen, sagt Müller. Man muss vielleicht vorausschicken: Müller war fast 20 Jahre in der freien Wirtschaft, war erst Kfz-Mechaniker, hat dann über den zweiten Bildungsweg Mathe studiert, eine IT-Firma gegründet, 16 Jahre als Geschäftsführer eines Mittelständlers gearbeitet, gibt seit sieben Jahren nebenberuflich Mathevorlesungen an der Hochschule Esslingen. „Ich berate, programmiere – und bin finanziell unabhängig“, sagt er. „Mathematik ist für mich Passion – das Fach liebe ich.“

Kommunikation mit dem Regierungspräsidium „wie der Kontakt mit Außerirdischen“

Was also könnte Schulen mit personellen Engpässen Besseres passieren, als dass einer wie Müller einspringt? Doch so einfach läuft das mit der Rekrutierung nicht. In Kurzfassung: Müller meldete sich am 24. Februar in dem Online-Vertretungspool an, nannte als gewünschten Einsatzort Stuttgart, scannte seine Zeugnisse gleich mit ein und konnte online den Status „angekommen“ abrufen. Auf dem Online-Formular stand, die Zeit bis zur Übernahme könne „bis zu drei Wochen“ dauern. Müller hörte zwei Monate nichts. Am 20. April hakte er beim RP Stuttgart nach. Am 24. April bot ihm das RP eine Vertretungsstelle in Böblingen an, obwohl er Stuttgart angekreuzt hatte. Müller lehnte ab. In der gleichen Woche erhielt er von Schulleiterin Graf einen Anruf, ob er in Klasse fünf Mathe am Hegel-Gymnasium in Vaihingen vertreten kann. Müller sagte zu. Am 27. April erhielt er vom RP die Genehmigung dafür, samt der Aufforderung, sich im Online-Portal dafür anzumelden (Müllers Anmeldung liegt dort seit zwei Monaten) und beglaubigte Zeugnisse zu schicken. Am selben Tag bekam Müller vom RP die Info, beglaubigte Zeugniskopien seien „vorerst nicht nötig“. Seit 11. Mai unterrichtet Müller die Fünfer am Hegel.

Für den Mathematiker ein echter Höhepunkt: „Die Fünftklässler machen gut mit.“ Auch das Kollegium habe ihn „toll aufgenommen“. Sein eigenes Hauptmotiv? „Ich habe ja auch von dem Bildungssystem profitiert – jetzt gebe ich halt was zurück.“ In seinem Dienstbericht steht: „Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich von ihm ernst genommen und wertgeschätzt.“ An einer Dauerstelle sei er „nicht interessiert“, erklärt Müller dieser Zeitung – „aber ich wäre immer bereit, Lücken zu füllen“. Inzwischen nicht mehr. Grund sei das „völlig dilettantische Prozedere“ des RP. Dieses habe sich bisher weder entschuldigt, noch habe er Geld für seinen Einsatz bekommen.

Behörde bedauert „Abstimmungsprobleme“

Auf Anfrage dieser Zeitung bestätigt das RP, „dass bei krankheitsbedingten Ausfällen in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht genügend Vertretungslehrer zur Verfügung stehen“. Man erhebe jedoch „keine tagesaktuellen Ausfälle“. Kurzfristige Ausfälle würden meist durch interne Maßnahmen, etwa Mehrarbeit der Lehrer, aufgefangen – „an manchen Standorten kann es auch zu Unterrichtskürzungen kommen“, räumt die Behörde ein. In diesem Schuljahr seien 56 Personen als Vertretungslehrkräfte an Stuttgarter Gymnasien vermittelt worden. Bei Erstbewerbern erfolge „sehr zeitnah“ die Übernahme in die Vertretungslehrerliste. Dass Müller erst im April ein Vertretungsangebot bekommen habe, habe daran gelegen, dass bis dahin kein längerfristiger Ausfall an Stuttgarter Schulen vorgelegen habe, so das RP. Mit dem Angebot an angrenzende Einsatzgebiete wie in Müllers Fall Böblingen habe man bei anderen Bewerbern gute Erfahrungen gemacht. Dass man Müller, der längst im Vertretungspool registriert war, erneut zur Bewerbung aufgefordert habe, „das bedauern wir sehr“, so das RP zur Zeitung. Es sei aber „ein Einzelfall“. Dass Müller noch kein Geld gesehen hat, ficht die Behörde nicht an. Man habe nach Vertragsabschluss alle Daten dem Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) gemeldet. „Bei Auszahlungsverzögerungen sollte sich Herr Müller direkt mit dem LBV in Verbindung setzen“, so das RP.

Barbara Graf attestiert dem RP insgesamt aber einen guten Job: „Wir sind extrem zufrieden, wie das RP uns in unseren Notfällen mit Lehrkräften aushelfen konnte.“ Sie räumt aber ein: „Wir haben auf hohem Niveau ein Problem, dass es keine Informatiklehrer auf dem Markt gibt.“ Derzeit helfen am Hegel noch zwei weitere Springer aus, darunter eine Masterstudentin, die zwar noch kein Referendariat habe, aber beim Schulpraktikum überzeugt habe. Das Problem sei aber, dass man erst nach dreimonatiger Krankheit eine Vertretung befristet einstellen dürfe. In der Praxis erfolgten Krankschreibungen oft erst nur auf 14 Tage, auch wenn sie dann verlängert werden.