Am Bahnhof treffen Pendler auf Wurstverkäufer, Busfahrer auf Kioskbesitzer. Tag für Tag. Das schweißt zusammen. Vor allem dann, wenn die S-Bahn mal wieder zu spät ist.

Vaihingen - Cemal Özmen vertritt sich die Beine. Vor seinem Kiosk geht er auf und ab und blinzelt zum Himmel. „Hier sehe ich Sonne, Regen, Schnee. Ich kann alles anfassen“, sagt er. Seit vier Jahren betreibt der 59-Jährige die Bude am Vaihinger Bahnhof, verkauft Zigaretten, Getränke, Süßes, Zeitungen. Zuvor hatte er ein Lädle in der Unterführung an der Staatsgalerie, wegen S-21-Arbeiten gibt’s das aber nicht mehr. Hier in Vaihingen gefällt es ihm gut, sagt er. Es gibt frische Luft und viel zu sehen, „ich mag gern etwas quatschen“. Spätestens nach seinem Running Gag ist das Eis gebrochen. Cemal Özmen zeigt auf die Tafel mit seinen Öffnungszeiten. Montag bis Freitag von 4.59 bis 17.04 Uhr. „Sehen Sie, Sie haben auch gelacht“, sagt er fröhlich, „Spaß muss sein.“

 

Ob’s angesteckt hat? Die Radler, die sich vor dem Verkaufsstand getroffen haben und zur Abfahrt nach Feuerbach bereit stehen, haben jedenfalls gut lachen. Zwischen 70 und 80 sind die lustigen Sechs aus dem Umfeld der Vaihinger Naturfreunde, die sämtliche S- und U-Bahnen sausen lassen und lieber strampeln wollen. „Man muss was für die Waden tun“, sagt Wolfgang Bucher grinsend, während er seine schwarze „Juliette Lulu“, wie er sein Fahrrad liebevoll nennt, fest im Griff hat. Es ist kurz nach 14 Uhr, als die Gruppe losradelt. Ein guter Zeitpunkt. Die Morgenpendler sind längst durch, die Abendpendler noch nicht da. Die Ruhe zwischen den Stürmen.

Am Vaihinger Bahnhof kennt man sich

Fünf Bus-, drei U- und drei S-Bahn-Linien kreuzen sich am Vaihinger Bahnhof. Ein ständiges Ein- und Aussteigen. Mütter mit Kinderwagen, Rentner mit Einkaufstaschen, ein junger Mann mit Rastazöpfen, Jeansweste und einem Sixpack Bier auf Heimatbesuch Richtung Kaltental. Am frühen Nachmittag findet die Busfahrerin Fisul Yaldizci die Zeit, den Kassenbereich in ihrem Wagen mit Sprühreiniger zu putzen – ohne zu ahnen, dass der Fahrlehrer Manuel Paule ihr gleich für einen Schüler die Fahrt nach Leinfelden abluchsen wird. Seit 2009 sitzt die zierliche Frau in den gelben Riesenmobile am Steuer, zuvor hatte sie acht Jahre im Ausland Reisebusse gelenkt. Der Beruf sei zwar keine Männerdomäne mehr, „aber leider ist es so, dass sich das noch wenige Frauen trauen“.

Die außerplanmäßige Pause führt Fisul Yaldizci an den Kiosk ihres Landsmannes Cemal Özmen. Sie wechseln ein paar Worte auf Türkisch. Am Vaihinger Bahnhof kennt man sich. „Das ist nicht der Hauptbahnhof, wir haben keinen Fernverkehr“, erklärt Joachim Mutter, der seit 1998 den DB-Servicestore betreibt. „Wir leben von Stammkunden, die hier umsteigen.“ Nicht zuletzt deswegen hat er vor ein paar Jahren auf ein zweites Standbein gesetzt: „die scharfe Currywurst“. Im Imbiss ist der Name Programm. Bis Schärfegrad 13 kann man seinen Snack würzen lassen. Stolz erzählt er von einem Youtube-Video, in dem ein junger Mann japsend und mit tränenden Augen „die schärfste Currywurst Stuttgarts“ vertilgt. Welche Stufe der Chef selbst schafft? Joachim Mutter winkt ab. „Ich ess’ das nicht, mir macht das den Geschmack kaputt“, aber bei jungen Kerlen, die sich nach der Arbeit hier treffen, sei die Power-Wurst an der Verbindungsstrecke zwischen S und U beliebt.

Aufnahmestopp in der Fahrradstation

Andreas Greb reicht eine normale Portion mit Curryketchup und Majo. Mindestens einmal die Woche stoppe er zwischen dem Büro in Möhringen und dem Heimatort Kirchheim beim Umsteigen am Imbiss. Bis Schärfegrad sieben habe er sich schon durchgebissen, „aber dann hört der Spaß auf“. Ohnehin ist die Currywurst nicht das Nonplusultra für den Mann, der von sich selbst sagt, „auf Schalke geboren“ zu sein. Er flüstert etwas von Ruhrpott, Diaspora und Geheimtipp und zeigt gespielt verschämt in Joachim Manns Laden. „Mettbrötchen“, sagt er mit leuchtenden Augen.

Im Mikrokosmos Bahnhof gibt es eben viele Nischen. Eine besetzt die Fahrrad-Service-Station, betrieben vom Sozialunternehmen „Neue Arbeit“. Parken, Pflege, Wartung, Verleih steht draußen, innen heißt es jedoch auf einem Zettel im Fenster: Aufnahmestopp. „Seit dem Frühjahr ist die Hölle los“, sagt der Mitarbeiter Gerhard Baumann. Auch hier kommen hauptsächlich Stammkunden an die Theke, die das Umsteigen nutzen, um das Rad flottmachen zu lassen. „Es gibt auch mal ruhige Momente – bei Regen“, sagt der Ex-Speditionsfahrer im Biker-Look und grinst, während aus dem altmodischen Werkstattradio Rockmusik dringt. Hier ist halt immer was los. Einstiegen, aussteigen, umsteigen. Am interessantesten sei es, aus dem Thekenfenster zu lugen, wenn die S-Bahn mal wieder nicht fahre, sagt Gerhard Baumann augenzwinkernd. Dann seien alle vereint. Im Schimpfen.