Das Urteil der Verfassungsrichter zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung beschäftigt die Mitarbeiter und Kranken auf der Palliativstation des Marienhospitals. Allerdings bekommt hier der Todeswunsch eines Patienten oft eine neue Wendung.

Stuttgart - Rituale sind wichtig. Also entzündet Schwester Maria Christa die große Kerze im Flur. Nun weiß es jeder auf der Palliativstation des Marienhospitals: Die Patientin in Zimmer 15 ist gestorben. Jetzt kann jeder Anteil nehmen, innehalten und persönlich Ade sagen. Denn nun hat sie es geschafft. Das Ringen mit dem Tod ist zu Ende. Und Schwester Maria Christa ist auf eine besondere Art dankbar. Denn ihr wurde die Gnade zuteil, die Patientin mit ihren Gebeten zu begleiten. Man ist fast geneigt zu sagen: So soll es sein. So stellt man sich den Übergang vom Leben zum Tod vor. Friedvoll. Geborgen. Begleitet. Ohne Leid.

 

Die Realität ist mitunter eine andere. Und das macht Menschen Angst. Diese Angst vor einem einsamen Ende voller Leiden. Sie befeuert auch die aktuelle Debatte ums Sterben. Besser gesagt: ums selbstbestimmte Sterben. Ein Recht, das der Bundestag im Jahr 2015 per Gesetz zur geschäftsmäßigen Förderung zur Selbsttötung aushebelte. Zumindest sehen es die Richter des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe so. Ihr jüngster Urteilsspruch erlaubt nun, beim Sterben die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Was bedeutet dieses Urteil nun in der Praxis? Was denken diejenigen, die täglich mit schwerster Krankheit, menschlichem Leid und dem Sterben konfrontiert sind? Besser gefragt: Gehen sie im Geiste dieses Urteils anders mit dem Todeswunsch eines Patienten um? Dr. Martin Zoz, leitender Oberarzt der Palliativstation, beantwortet die Frage zunächst im Schwarz-weiß-Raster: „Für uns auf der Station kommt aktive Sterbehilfe nicht in Frage.“

Das Leben ist unverfügbar

Ein Satz, wie in Stein gemeißelt. Ein Standpunkt, der in einem christlich getragenen Krankenhaus nicht überrascht. Denn die Ordensschwestern mit ihren Hauben sind dort mehr als nur Dekoration. Die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul wollen die Güte Gottes täglich leben und sichtbar machen. So gehört es hier zum Selbstverständnis, diesem Gott die Herrschaft über Leben und Tod zu überlassen. „Das Leben ist ein Geschenk von Gott. Der Beginn und das Ende sind unverfügbar“, sagt Schwester Sylvia Maria, die Seelsorgerin der Station. Aber der Ordensfrau ist auch klar, dass einem ALS-Patienten, dem ein qualvoller Erstickungstod droht, allein damit nicht geholfen ist. Palliativ-Care-Pflegerin Martina Tertelmann kennt solche Ausnahmefälle aus ihrer 23-jährigen Praxis: „Wenn so ein Wunsch kommt, bin ich immer wieder zwiegespalten. Dann ist es schwer, so etwas komplett abzulehnen. Es gibt furchtbare Tode.“

Oberarzt Zoz nickt bei dem Gespräch zwischen seinen Kolleginnen zunächst nur still, wendet dann aber ein: „Das sind sehr seltene Fälle.“ Und doch kommen sie vor, „die schweren onkologischen und neurologischen Fälle“, wie er sie bezeichnet. Zoz sortiert diese schwerst kranken Menschen mit Todeswunsch in eine von drei Patienten-Gruppen ein: Eben jene seltenen Fälle „die Angst vor einem qualvollen Tod haben“. Zweitens jene, „die niemandem mehr zur Last fallen wollen“. Und schließlich „die Macher-Typen, die ihr ganzes Leben alles im Griff hatten und nun unter dem Autonomieverlust leiden“.

Man könnte sagen: Nichts Menschliches ist dem Team auf der Palliativstation des Marienhospitals fremd. Weil sie dort offen mit ihren eigenen Ängsten umgehen, haben sie mehr Mitgefühl mit den Nöten ihrer Patienten. Eines dieser Gefühle formuliert Martin Zoz in dem Satz „Was bleibt von einem nach dem Tod?“ Was sich zunächst sehr metaphysisch und abstrakt anhört, kann im Alltag einer Palliativstation zu einer drängenden Frage werden. Die Statistik sagt: Mehr als 4,2 Tode pro Woche verkraften selbst Hospizler oder Palliativ-Care-Kräfte nicht ohne körperliche und seelische Folgen. „Doch neulich waren es neun Todesfälle“, sagt eine Pflegerin und ergänzt: „Da bekommst du plötzlich Angst, dass man sich an den Namen eines Menschen nicht mehr erinnerst.“ Der Umgang mit der Endlichkeit bekommt so ein Gesicht, in das man auf Station täglich blickt.

Auftrag: Geborgensein vermitteln

Was sich schrecklich anhören mag, wird in so einer Einrichtung für die Mitarbeiter durch den offenen Umgang, die Seelsorge und Supervision zu einer tragbaren Aufgabe. Patienten spüren dadurch: Der Tod ist hier, anders als in der Gesellschaft, kein Tabuthema. „Ich biete als Seelsorgerin den Raum für all das, was Patienten Angehörige oder Mitarbeiter ansprechen wollen“, sagt Schwester Sylvia Maria, „und so höre ich oft die Gründe und die Not, die hinter einem Todeswunsch stecken.“ Und so genügt oft ihr Charisma oder ein Bibelwort, um das „Gefühl des Geborgenseins“ zu vermitteln. „Mir ist wichtig spüren zu lassen: Ich gehe mit dir.“

Daher wundert es nicht, dass sich in diesem Klima die Wünsche von Schwerstkranken nach einer Abkürzung ins Jenseits schnell relativieren. „Wir schaffen es erstaunlich oft, dass Menschen ihren Todeswunsch loslassen“, sagt Martina Tertelmann. Diese Veränderung dokumentieren auch zwei ausliegende Bücher, in die Sterbende und ihre Angehörigen ihre Gedanken verewigen. „Welch eine Gnade, in dieser durchrationalisierten Welt einen solchen Ort zu finden. Einen Ort, an dem meine Frau und ich in den letzten Wochen von liebevoller Fürsorge, rücksichtsvoller Versorgung und seelsorgerischer Hingabe umfangen und aufgefangen wurden“. Es ist ein Beispiel von vielen Einträgen. Dr. Zoz ist jedes Mal aufs Neue bewegt, wenn er die Einträge voller Dankbarkeit liest. „Ich bin fasziniert“, sagt er ohne Koketterie, „wir haben doch gar nicht so viel getan.“ Offenbar mehr als gedacht.

Darin liegt wohl auch das Geheimnis einer Palliativstation oder eines Hospizes. An solchen Orten verliert sich die Urangst eines Menschen, sein Schicksal alleine und verlassen tragen zu müssen. Es wächst das Vertrauen, nicht noch tiefer fallen zu können, sondern getragen zu sein. In dieser totalen Ummantelung (lat. Palliare: mit einem Mantel umhüllen) verliert sich offensichtlich auch der Wunsch nach einem schnellen Tod, der das drohende Leid verkürzt.

Eines dieser Beispiele ist Maria F. (87). Die Stuttgarterin hatte nach einem Schulterbruch, einer Herzinsuffizienz mit Wasser in der Lunge ihren Lebenswillen verloren, wie ihre Nichte berichtet. Sie habe Gott ihr Leben angeboten und laut dem Bericht einer Krankenschwester sogar ihr letztes Hemd ausgezogen. „Aber das mit dem Sterben hat nicht so geklappt, wie sie sich es vorgestellt hat“, berichtet ihre Nichte. Dann habe sich die Tante dank der Pflege auf der Palliativstation stabilisiert und nun sei keine Rede mehr vom Sterben. Maria F. hat wieder Pläne.

Und doch darf man sich nichts vormachen. Maria F. steht nicht für die vielen anderen Schicksale von Menschen, die alleine in ihrer Wohnung oder einem Pflegeheim ihrem möglichen Ende entgegenblicken. Palliativmediziner Dr. Zoz weiß: „Es ist ein Luxus hier zu sein.“ Plätze in einem stationären Hospiz oder einer Palliativstation sind rar. Aus diesem Grund meint Martin Zoz: „Das ist das Gute an dem Urteil des Verfassungsgerichts. Es ist eine Chance, die Möglichkeiten der Palliativ-Medizin in die Breite zu bringen. Es ist die Chance, dass sich Menschen mit dieser Situation auseinandersetzen.“