Susanne Heydenreich (63) ist Intendantin, Schauspielerin und vieles mehr. Eine Chronik von 10 bis 22 Uhr zeigt, wie prall der Tag der Theatermacherin ist: von Proben, E-Mails checken, Textlektüre, Kollegen frisieren bis zum abendlichen Auftritt mit anrührender Spiel- und Liedkunst.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Was machen Theaterleute tagsüber, wenn andere arbeiten? Die Frage finden Theaterleute nur noch selten lustig. Hier gibt Susanne Heydenreich, die Intendantin des Theaters der Altstadt, eine Antwort: Das Protokoll eines Freitags.

 

10 Uhr

Susanne Heydenreich hat nach einer halben Stunde Frühsport, einem Tee und Müsli die Tür des Theaters aufgeschlossen, einen Becher Kaffee aufgebrüht und wundert sich, dass sie nicht heiserer ist. Sie hat am Abend zuvor und an den vorherigen Tagen gespielt, danach Text gelernt, lernen wollen, ist aber mit dem Buch in der Hand eingeschlafen. Ein Mitarbeiter bringt jetzt einen goldenen Reif – eine Idee für eine Krone, die Heydenreich als Königin tragen könnte. Toll, aber zu groß, sie muss überarbeitet werden.

10.15 Uhr

Susanne Heydenreich, seit 21 Jahren Intendantin des Theaters der Altstadt, das ihre Eltern Klaus und Elisabeth Heydenreich 1958 mitten im Bohnenviertel gegründet haben, sitzt in ihrem kleinen Büro im den ersten Stock hinter den Zuschauerreihen und dem Technikpult. Blick auf den Feuersee. „Lohengrin ist da, alles ist gut.“ Lohengrin ist der Schwan, der auf dem Feuersee seine Runden dreht. Heydenreich checkt E-Mails. „Zum Glück keine Katastrophe“, sagt sie. „Grundsätzlich mag ich Probleme, weil ich gerne Lösungen finde.“ Außer Geldprobleme – um Budget und Finanzen kümmert sich der Trägerverein des Theaters. Jedenfalls: nichts Außergewöhnliches, keine Krankmeldung eines Schauspielers, die eine Umbesetzung erfordern würde, keine Bewerbungen, die die Intendantin ausdrucken und auf den Stapel packen müsste, den sie ihr „schlechtes Gewissen“ nennt: „Manchmal dauert es lange, aber ich beantworte jede Mail.“

10.45 Uhr

Im Nieselregen marschiert die Intendantin, jetzt in ihrer Funktion als Schauspielerin, die Rotebühlstraße hinauf zu dem Gebäude, in dem die Probebühne untergebracht ist. Zweiter Stock, Regisseur Uwe Hoppe, müder Blick unter dem Kapuzenpulli, sitzt mit Schauspielern am Tisch. Probenkostüme hängen an einer Stange, eine Krone liegt auf einem Klavier – Geübt wird Schillers „Die Jungfrau von Orleans“, die Premiere ist am 19. Januar.

10.55 Uhr

etzte Raucherrunde. Regisseur Hoppe: „Wir fangen an mit Talbots Tod“. Der Schauspieler Dirk Helbig sitzt auf dem Boden, Lou Bertalan als englischer Heerführer Talbot legt sich zu ihm. Bittere letzte Worte. Gegner treten auf, denen der Tod Talbots gelegen kommt. Unterbrechung. „Mehr Fanfare“, verlangt Hoppe. „Ihr habt gesiegt! Das muss man merken.“ Susanne Heydenreich sitzt abseits, beobachtet. Die Schauspielerin ist nicht nur Intendantin, sondern auch Regisseurin, aber eben nicht in dieser Produktion. Wenn sie etwas sagt, „nicht dauernd mit offenem Mund dastehen“ zum Beispiel“, dann leise und als Tipp einer erfahrenen Schauspielerin für einen jungen Kollegen. Kira Thomas spielt Johanna, eine fanatisch Glaubende. Eine Frau, die sich als stärker eingeschätzt hat als sie ist und sich wundert, wenn sie von normalen Gefühlen überwältigt wird. Eine moderne Heldin.

12.35 Uhr

Nach einer Pause mit Kaffee, Mandarinen, Brötchen: nächste Szene. Johanna ist gefangen, die Engländer triumphieren, Susanne Heydenreich als Königin Isabeau scherzt über die Jungfrau, die nichts mehr ausrichten kann auf dem Schlachtfeld – oder? Allgemeine Heiterkeit, weil Lionel-Darsteller Torsten Hoffmann von einem Schluckauf geplagt wird, während er Johanna vorschlägt, überzulaufen.

13.30 Uhr

Vorhang. Verbeugen wird geübt. Eine Säule im Raum stört, Gedrängel, Kichern. Hoppe: „Ihr müsst den Vorhang ernst nehmen!“ Heydenreich: „Aber ja, den sieze ich.“

13.45 Uhr

Probenende, ein Besuch im Buchladen um die Ecke, dann ein spätes Mittagessen in einem türkischen Imbiss.

14.45 Uhr

Zurück im Theater, Heydenreich denkt über den Spielplan nach. „Es ist auch vom Geld abhängig, welche Stücke wir spielen können.“ Der Wirtschaftsplan für 2018 sieht ein Gesamtbudget von 1,1 Millionen Euro vor, davon sind zwei Drittel Subvention von Stadt und Land, und ein Drittel muss selbst erwirtschaftet werden. Zu bedenken ist also: Ist das Stück frei, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, oder muss man Honorar bedenken? Wie viele Schauspieler braucht man? Und: „Es klingt vielleicht komisch“ sagt die Intendantin, „aber ein ansprechender Titel ist wichtig.“     

15.30 Uhr

Im Büro neben dem Theater. Ein schmaler Raum mit Regalen und Schreibtischen, hier arbeitet auch der technische Leiter David Schwerdtfeger. Heydenreichs Stellvertreter Gunther Haas beantwortet am Telefon Fragen zu einem Gutschein. Mit der Dramaturgin Katharina Scholl bespricht Heydenreich Marketingfragen, dann geht’s um die nächste Saison – das 60-Jahr-Jubiläum. Scholl wirbt für ein Stück von David Mamet, Heydenreich mag aber den Titel nicht. Haas gibt zu bedenken, dass ein Krimi mal wieder gut wäre. Und sonst? Vielleicht ein Stück von Reza oder mal wieder Franz Xaver Kroetz? Wie wäre es mit „Kunst“, und wer inszeniert? Heydenreich: „Das muss jemand sein, der nicht alles umschreibt, das ist nicht nötig und gibt unter Umständen nur Verlagsprobleme.“ Die Intendantin schätzt klassisches Schauspielertheater, Performances, radikale Textcollagen überlässt sie anderen.

17.30 Uhr

Susanne Heydenreich geht nach nebenan ins Theater, hinab über die Wendeltreppe in den Keller. An den fensterlosen Raum mit Regalen voller Kisten, Schminke, Bändern und Knöpfen (der Raum der Kostümverwalterin und Schneiderin Isabella Winter) schließen sich weitere Räume an: eine Waschküche mit Waschmaschine und Trockner für die Kostüme, zwei Waschbecken, Dusche und eine Toilette. Daneben die Herren- und Damengarderoben. Heydenreich ist früh dran, weil sie später auch Kollegen frisieren wird, für eine Maskenbildnerin reicht das Budget des Theaters nicht. Sie bindet die Haare zusammen, probiert die neu frisierten Perücken, die sie nachher tragen wird, ob sie richtig sitzen. Die Kollegen trudeln ein, die Intendantin, jetzt Maskenbildnerin im Kimono, nestelt an den Haaren der anderen.

18.30 Uhr

Einsingen. Konzentration, in einer Stunde beginnt die Vorstellung.

19.30 Uhr

Erik Gedeons Musikdrama „Ewig jung“ beginnt. Der Musiker Oliver Heise tapert als Greis verkleidet die Showtreppe hinab, es dauert Minuten, bis er das Klavier findet. Die Schauspieler verkörpern ehemalige Schauspieler, Susanne Heydenreich spielt sich selbst als 90-Jährige. In Wirklichkeit ist sie 63, ihr Vertrag geht bis 2020. Was danach geschieht? Nur so viel: „Ich möchte nicht gebeten werden aufzuhören.“ Die Figuren auf der Bühne wollen vom Aufhören nichts hören, ihre jährliche Revue (aus der dieser Abend „Ewig jung“ besteht) muss sein. Auch wenn sie empfindlich schwächeln, ein Alter (Reinhold Weiser) bricht zusammen, nachdem er „I will survive“ geröhrt hat. Susanne Heydenreichs anrührend trauriger Kommentar: Mit rauer Stimme singt sie „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ – Text von Wilhelm Müller, von Schubert in der „Winterreise“ vertont.

Doch so sanft bleibt die Dame nicht. Moderiert wird die Tatter-Revue nämlich von einer jungen Frau mit wunderbar milchig-hellem Teint (Bernadette Hug). Als sie im ersten Rang stehend Uncharmantes über das Ableben singt, machen die Schauspieler lange Gesichter. Susanne Heydenreich – die einen Sinnspruch am Garderobenspiegel angebracht hat : „sollte/hätte/könnte/würde – los geht’s“ – ergreift kurzerhand ein Gewehr, zielt auf die Singende. Peng. Stille. Alte, wollt ihr ewig leben? Erst mal, ja, warum nicht? Begeisterter Applaus.

22 Uhr

Abgeschminkt. Susanne Heydenreich fährt nach Hause, wird wie jeden Abend Nachrichten anschauen, das war’s. Heute wird sie keinen Text mehr lernen. Samstag ist auch ein Tag.