Jeder zweite an Depression Erkrankte erlebt laut einer aktuellen Umfrage derzeit massive Einschränkungen in der Behandlung. Wie sich das auf die Psyche auswirkt, erzählt eine 25-jährige Betroffene.

Stuttgart/Leipzig - Es war dieses Gefühl, immer mehr aus dem Alltag abzudriften, hinein in eine Welt wie unter einer Käseglocke, das Frederike Brand Angst gemacht hat. „Alles habe ich nur noch gedämpft wahrgenommen“, erzählt die 25-Jährige aus dem Rems-Murr-Kreis. Zugleich wurde sie von einer inneren Unruhe gepackt, die kein Ziel kannte, sie aber zutiefst erschöpfte. „Eines Morgens im Oktober bin ich aufgewacht und wusste: Ich kann nicht mehr.“ Sie hat sich kurz darauf in eine psychiatrische Klinik im Raum Stuttgart einweisen lassen. Doch die Hilfe, die sie von dort erhofft hatte, blieb größtenteils aus: „Die Stationen waren nahezu überfüllt“, erzählt sie. Das Personal dagegen chronisch unterbesetzt.

 

Während des Lockdowns sind viele Erkrankte in einen Teufelskreis geraten

Was Frederike Brand schildert, belegt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe mit Zahlen. In ihrem vierten Deutschland-Barometer Depression zeigt sich, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung – in Deutschland sind das rund fünf Millionen – deutlich stärker von den Folgen der Corona-Maßnahmen betroffen sind als die Allgemeinbevölkerung. „Da sind zum einen die Auswirkungen auf das persönliche Umfeld“, sagt Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Der Lockdown im Frühjahr beispielsweise wurde von psychisch Kranken im Vergleich zu Gesunden als deutlich belastender erlebt.“ Insbesondere die fehlende Tagesstruktur bedingt durch die häusliche Isolation ließ viele in einen Teufelskreis rutschen: „Menschen in einer Depression sind hoffnungslos und erschöpft“, sagt Hegerl. „Lange Bettzeiten können die Depression weiter verstärken.“

Jeder zweite Betroffene hatte keine regelmäßigen Behandlungen

Gleichzeitig führen die politisch verordneten Maßnahmen zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch kranker Menschen: Jeder zweite Betroffene (48 Prozent) berichtet in der Analyse, die von der Deutschen-Bahn-Stiftung gefördert wird, von ausgefallenen Behandlungsterminen beim Facharzt oder Psychotherapeuten. Jeder zehnte an Depression erkrankte Befragte erlebte, dass ein geplanter Klinikaufenthalt abgesagt wurde. „Hochgerechnet auf die Bevölkerung haben mehr als zwei Millionen depressiv Erkrankte eine Einschränkung ihrer medizinischen Versorgung mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen durch die Corona-Maßnahmen erlebt“, so Hegerl.

In den Kliniken zeichnet sich ein Behandlungsstau ab

Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren, weil nun viele Behandlungen nachgeholt werden. Das hat auch Frederike Brand erfahren. Schon am Tag ihrer Einweisung wurde sie wieder nach Hause geschickt: Es habe einen Notfall gegeben, ihr Platz wäre daher gestrichen worden. „Für jemanden, der sich am Ende seiner körperlichen und psychischen Kräfte fühlt, ist so ein Satz vernichtend.“ Vier Tage später durfte die junge Frau dann ihre Therapie beginnen.

Doch aufgrund der Corona-Schutzbestimmungen und auch der Personalknappheit entfielen viele Anwendungen. „Man bekam seine Medikamente, aber das Gefühl, hier wird meine Erkrankung verstanden und mir gezeigt, wie ich damit umgehen kann, hat sich nicht eingestellt.“ Sie mache den Ärzten keinen Vorwurf. Vielmehr geht ihre Kritik an die Politik: „Man darf gerade in Zeiten wie diesen psychisch Erkrankte nicht hängen lassen.“

Dies fordert auch die Deutsche Depressionshilfe: „Man muss bei der Wahl der Corona-Maßnahmen künftig auf eine bessere Balance achten“, sagt Hegerl. „Eine Balance zwischen Leid und Tod, die durch die Maßnahmen einerseits möglicherweise verhindert und andererseits konkret verursacht werden.“ Zwar sei die Zahl der Suizide in den vergangenen vier Jahrzehnten zurückgegangen – was vor allem daran liege, dass es mehr und bessere therapeutische Angebote für psychisch Kranke gibt. Das könnte sich aber ändern, wenn die Qualität der Versorgung für Betroffene eingeschränkt ist.

Video- und Telefonsprechstunden haben sich bewährt

Um die Versorgungslücken wenigstens ein Stück weit zu schließen, haben sich nach Angaben der Stiftung Video- und Telefonsprechstunden sowie Online-Programme bewährt: 14 Prozent der Patienten, die aktuell an einer Depression leiden, haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und sind damit sehr zufrieden (85 Prozent). Hegerl betont: Solche Angebote seien nur als Hilfsmaßnahme in Pandemiezeiten gedacht. „Eine Psychotherapie und eine medikamentöse Behandlung ersetzen sie nicht.“

Frederike Brand indes kann ohne diese Hilfsmittel auskommen: Sie hat bei der Psychotherapeutin, die sie schon bei ihrem ersten Schub betreut hatte, wieder eine Therapie begonnen. „Momentan geht es mir wieder besser“, sagt sie und hofft, dass dies erst einmal so bleiben wird. Denn bis sie ihren Platz in einer Reha-Klinik antreten kann, wird es noch lange dauern: Anfang März, so wurde ihr Bescheid gegeben, wäre erst wieder etwas frei.