Die Schriftstellerin Ulla Hahn gehört uu den Wagnerfreunden, die jedes Jahr im Sommer nach Bayreuth pilgern. Dort wurde sie einmal sogar zur heimlichen Mitregisseurin.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Bayreuth - Wenn es in Bayreuth im Sommer ein paar Tage regnet – und es waren dort mehr als ein paar Sommertage verregnet – werden selbst die geduldigen Festspielgäste leicht muffig. Man kann dann nämlich nicht tun, was man sonst so tut in diesen Pausen, die bei den Vorstellungen, welche bis in die Nacht hineingehen (ohne größere Mühen ist Richard Wagner nicht zu haben), stets genau eine Stunde dauern: Durch den Park vor dem Festspielhaus schieben, Wassertreten in der Luftkuroase vis-à-vis (obwohl, Wassertreten könnte man eigentlich) oder mal eben runter in den alten Biergarten am Fuß des Hügels gehen, wo der mutmaßlich brummeligste oberfränkische Wirt seit der Erfindung der Gastronomie seine Seidel überlaufen lässt. Essen ist im Übrigen Glückssache, sowohl ob man was, wie auch was man dann bekommt. Aber wie gesagt: In alle diese Richtungen geht bei Regenwetter nicht viel.

 

Die Alternativen sind rasch verbraucht: Manche erlauben Geldbeutel und Verstand nicht (Speisen im Restaurant), andere erweisen sich grundsätzlich als kontraproduktiv. Wenn man dreimal vor und zurück durch den Wartesaal im Festspielhaus getappt ist, dessen Heimeligkeit einer schlecht beleuchteten, regionalen Bahnhofshalle recht nahe kommt, kommt man sich vor wie auf einer Galeere. Kurzum: Die Leute werden tendenziell noch reizbarer, als sie, angestachelt durch diese Musik, die man manchen nur auf Rezept geben sollte, ohnehin schon sind.

Es wandelt aber auch mindestens ein Paar hier seit Jahrzehnten schon in trauter, angeregter und kaum je zu störender Zweieinigkeit herum: Ulla Hahn, die Schriftstellerin, und Klaus von Dohnanyi, der ehemalige SPD-Minister, der auch schon Erster Bürgermeister von Hamburg war. Immer sind sie (eine eher zierlich-kleine Frau und ein richtig großer Mann) Arm in Arm unterwegs und dauernd im Gespräch. Und das Wetter? „Kümmert uns nicht“, sagt Ulla Hahn, und wiederholt, um der ganzen Angelegenheit noch mal richtig rheinisch und mit Konsonantenschmackes Nachdruck zu verleihen: „Wir sinn‘ ja nisch‘ aus Zucker.“

Im Roman „Das verborgene Wort“ hat Hahn ihre Jugend beschrieben

Ulla Hahn ist kurz vor Kriegsende geboren worden. Dass sie einmal in den achtziger Jahren eine der bekanntesten deutschen Lyrikerinnen („Herz über Kopf“, „Spielende“) werden würde, dazu Essayistin von Graden und Romanautorin obendrein, hat ihr wirklich keiner an der Wiege gesungen. Wer Wagner war, wusste in ihrer Familie niemand. Musik gab es in der Kirche und zum Schützenfest. Die Frauen würden hübsch heiraten, und wenn sie unbedingt etwas werden wollten, sollten sie halt Bürokauffrau lernen: „Bööscher? Näh, hatte der Vater gesagt“, heißt es lakonisch in Ulla Hahns erster Rekapitulation jener Jahre. In dem Roman „Das verborgene Wort“ nennt sie sich, kaum verschlüsselt, Hilla Palm. Die hält dort, literaturinfiziert bis unter die Schädeldecke, mit sechzehn Jahren die Abschlussrede der Realschlussklasse, wo sich ihre Wörter auf einmal verselbstständigen und in ein Gedicht münden von Gottfried Keller, den sie seinerzeit in der Schweiz auch im selben Jahr „ins Leben getreten“ hatten, wie Ulla Hahn schreibt. Und Hilla Palm rezitiert:

„Die Zeit geht nicht, sie stehet still/Wir ziehen durch sie hin/Sie ist ein‘ Karawanserei/ Wir sind die Pilger drin.“

Als Hilla fertig ist, sagt der Lehrer Rosenbaum: „Bist du sicher, dass du nicht weiter zur Schule gehen willst?“ Was für eine Frage. Und dann sagt Hillas Tante in breitestem Platt: „Joot, dat dat von dä Scholl kütt.“ Was für eine Antwort.

Ihre linken Freunde fanden Hahns Opern-Faible befremdlich

Einen Tag bevor der große Regen kommt und die Bayreuther Festspiele beginnen, sitzt Ulla Hahn unter Linden und Eichen im Garten des Waldhotels Stein. Von dessen Höhen aus betrachtet schaut es so aus, als hätte Gottfried Keller, der ja auch gemalt hat, das Städtchen Bayreuth mit einem Wisch hingetuscht. Es ist ganz still hier oben. Außer wenn die Kanzlerin kommt, die während der Festspiele auch gerne im Stein übernachtet: Siebzigerjahre-Ambiente, sachlich, kein Luxus (außer Natur), funktional. Und nur eine Viertelstunde bis ins Festspielhaus.

1992 ist Ulla Hahn dort zum ersten Mal gewesen. Aber angefangen, sagt sie, hat es mit der Sehnsucht nach der Bühne und, unter anderen, nach Richard Wagner, „eben in Schülerzeiten und zwar mit dem Theaterbus, der nach Köln fuhr“. Wobei die Erwachsenen auf dem Dorf dachten – und es auch sagten – , dass doch wohl echt nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, wer zum Beispiel wegen eines Schwans, der einen Ritter heranschleppt, der dann aber seiner Braut nicht sagen will, wie er heißt, extra in die große Stadt losziehe. Eine Wieland-Wagner-Inszenierung von (ausgerechnet) „Siegfried“, war Hahns tatsächliche Wagner-Premiere. Frühe Sechziger. „Da tauchte ich ein“, sagt Ulla Hahn, „und das war ganz wunderbar“.

Auf ihre sehr eigene Weise, zart und zäh zugleich, hat die Pilgerin Ulla Hahn die ganzen bildungsmäßigen Bevormundungen ignoriert. Sie hat Abitur gemacht, promoviert und ist schließlich Literaturredakteurin bei Radio Bremen geworden, dann Autorin und hocherfolgreich dazu. Im Frühherbst erscheint der letzte Band der dann auf vier Bücher angewachsenen Hilla-Palm-Geschichte: „Wir werden erwartet“, heißt er.

Wagner verfolgt die Lyrikerin bis in den Schlaf

Das ist die Zeit, in der man unter Gleichgesinnten – Ulla Hahn war erst da und dort links und schließlich in der DKP – eher jemanden beargwöhnte, wenn er in die Oper ging. Jungen Leuten in den Siebzigern war die Oper von der Gesinnung her, wie Hahn sagt, fremd. Anders fremd als den Leuten in der ebenfalls unkenden Familie. Worüber unter Jungakademikern jetzt gelacht wurde, davor hatten sich die Dörfler insgeheim noch gefürchtet. War Musiktheater nicht nur etwas für reiche Leute, oder, wenn anders, höchstens für Spinner, Fantasten?

In den neunziger Jahren jedenfalls und mit dem „Ring des Nibelungen“ in der Sicht von Harry Kupfer, einer sowohl futuristischen wie sehr sportiven Interpretation, ist Ulla Hahn wieder richtig in die Wagnerei eingestiegen, und fand es von Anfang an wohltuend, „dass man sich da in dessen Entwürfe versenken kann“ und muss. Der Tagesablauf besteht für sie vor Ort folglich bis heute aus Wagner lesen, Wagner hören, ab und zu was essen, trinken und spätem Schlaf. Während diesem man womöglich auch noch von Wagner träumt, was nicht auszuschließen sei, wie Ulla Hahn meint.

Schreckt sie das? „Ach was“, antwortet Ulla Hahn, in einem Tonfall, der klarmacht, dass sie nun wirklich schon schlimmere Sachen erlebt hat als ästhetische Herausforderungen dieser Art. Aber auch wenn sie ganz drin ist im Stoff, schaut Ulla Hahn von draußen auf die Dinge: Wagnerianerin, wie man das nennt, ist sie nicht, bewahre. Sowieso nicht in der Sache und schon deswegen, weil „mir alle Ideologien gestohlen bleiben können“.

Gleichwohl kann sie sich in vielen Wagnerschen Momenten wiederfinden, sagt Ulla Hahn, auch und gerade als Dichterin, der ja am Anfang – „anders läuft das nicht!“ – auch erst „die Zeilen zugeflogen sind, und dann habe ich sie aufgeschrieben.“ Das sei schon ein bisschen so wie beim „Meistersinger“-Charakter Walther von Stolzing, der in die Zunft hineinschneit und behauptet, die meisten Kenntnisse in Ton und Sprache habe er „im Wald und auf der Vogelweid‘“ gesammelt: „Da lernt‘ ich wohl das Singen!“ Da sind die Etablierten, auch Künstler, vielleicht gerade Künstler, manchmal skeptisch. Könnt‘ ja jeder kommen. Doch wie der Betrieb am Ende Stolzing annimmt, wenn auch leicht fremdelnd, so hat er das auch mit Ulla Hahn getan. Ebenfalls ein wenig auf Abstand mitunter, aber gut.

Heiner Müller hat auf sie gehört

Für Ulla Hahn ist der Besuch der Festspiele in Bayreuth über die Jahre hinweg eine gewisse Normalität mit „Bratwurst auf die Hand“ geworden. Dennoch macht sie der Ort oft nachdenklich, wenn sie überlegt, was da historisch alles passiert und eingeprasselt ist auf das „Proletenkind am Grünen Hügel“, das sie in ihrer eigenen Sicht halt immer blieb, bleiben musste, bleibt. Eine ihrer schönsten Erinnerungen datiert zurück auf den Abend nach der „Tristan und Isolde“-Premiere, die der Dramatiker Heiner Müller zu verantworten hatte. Das war im Jahr 1993. Müllers Personal steckte in Klamotten von Yamamoto und in einem Bühnenraum von Erich Wonder, der keine Annäherungen vorsah. Müller fand, wie Müller nun mal war, dass sich die Beiden in ihrer Verzweiflungsliebe mal schön jeder allein zu Tode rasen sollten, und sah dem Ganzen mit einer stillen Befriedigung zu.

Auf der Premierenfeier hatten die Westlerin Ulla Hahn, Ex-DKP, und der Ostler Heiner Müller, Ex-DDR, ein längeres, freundliches Gespräch darüber, ob diese völlige Körperlosigkeit nicht ein bisschen zu weit gehe. Zumindest bei „Sink hernieder. . .“ im zweiten Aufzug würde, meinte Hahn, so ein kleiner Kontakt doch vielleicht, naja, gut tun. Also redete sie ein wenig mit Engelszungen. Und siehe: Im zweiten Jahr der Aufführungsserie, ein Jahr wiederum, bevor Müller starb, gab es, zur Verwunderung nicht weniger Zuschauer, eine ganz kurze Berührung zwischen Tristan und Isolde. Für Ulla Hahn war es ein kleiner historischer Moment. Und Bayreuth, wohin es ein weiter Weg gewesen war, endgültig ihrs.

Eine Pilgerin, mittendrin.