Vier Wochen nach der Wahl präsentieren Grüne und SPD ihr Regierungsprogramm. Vor der Einigung hat es allerdings mächtig geknirscht.

Stuttgart  - Sie sind dann doch zusammengekommen. Aber sie haben es noch einmal spannend gemacht - wenigstens ein bisschen. Der Uhrzeiger streicht über die Mittagsstunde, der verabredete Zeitpunkt für die Vorstellung des ersten grün-roten Koalitionsvertrages ist gekommen, nur von den Koalitionären fehlt jede Spur. Zumindest im Untergeschoss des Hauses der Architekten, das in genussreicher Aussichtslage auf Stuttgarter Halbhöhe ruht, ist kein Unterhändler, ob grüner oder roter Couleur, zu erhaschen. Die Fernsehkameras sind bereit, die Journalisten versammelt, doch die Architekten dieser jungfräulichen Koalition mit dem designierten grünen Ministerpräsidenten lassen auf sich warten.

 

Man muss schon über die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinaufsteigen, um durch die Innenfenster des Paul-Bonatz-Saals die SPD-Delegation zu entdecken. Die Genossen wirken entspannt. Ihr Verhandlungsführer Nils Schmid, der künftige Finanz- und Wirtschaftsminister, lehnt sich entspannt auf seinem Stuhl zurück und sagt etwas. Hinter der Glaswand sind nur die Lippenbewegungen zu erkennen. Ihm gegenüber sitzt sein Wahlkampagnen-Impresario Daniel Abbou und starrt auf sein Mobilfunkgerät - als erwarte er auf dem Display jede Sekunde die Zahlen für den Lotto-Jackpot.

Noch eine Wendeltreppe weiter oben verharren die Grünen um Winfried Kretschmann im Egon-Eiermann-Saal. Dort, so ist zu hören, besteht noch Beratungsbedarf. Daher die Verzögerung, wenn sie nicht nur ein neuerlicher dramaturgischer Kniff in der insgesamt recht anspruchsvollen Inszenierung dieser Koalitionsverhandlungen darstellt.

Ein Seiltanz mit glücklichem Ende

Es geht um den Zuschnitt der Ministerien und deren Verteilung auf die beiden Parteien. Am Ende werden die Sozialdemokraten ein Ressort mehr erhalten als die Grünen, die aber den Ministerpräsidenten stellen und im Kabinett ein leichtes Übergewicht erlangen, weil sie eine Staatsrätin sowie einen Staatssekretär mit Stimmrecht erhalten. Man will die Macht in dieser, so die Beteiligten, "Koalition auf Augenhöhe" sorgsam ausbalancieren.

Irgendwann findet der Seiltanz dann aber ein glückliches Ende, und die beiden Verhandlungsdelegationen erscheinen unter dem Beifall ihrer Anhänger. Voran Winfried Kretschmann, der sein Ministerpräsidentengesicht zeigt, das er am Wahlabend des 27. März aufgesetzt und seitdem nicht mehr ablegt hat. Das Kinn reckt sich leicht nach vorn, die Züge bleiben unbewegt bis auf die Andeutung eines sphinxhaften Lächelns, das alles und nichts bedeuten kann.

Diese Mimik bemüht sich um Würde und zielt auf Distanz. "Komm mir nicht zu nahe", sagt das Gesicht. Und: "Ich darf bloß nichts Falsches sagen." Vor einigen Tagen bemerkte Kretschmann auf die Frage, was sich für ihn denn seit der Landtagswahl geändert habe, dass er spüre, plötzlich wichtig zu sein. Das ist ein schöner Satz für einen 62-Jährigen, der sich in der Politik in einem Umfeld bewegt, wo schon 32-Jährige mit einem Gesicht herumlaufen, das Bedeutsamkeit signalisiert, wo noch gar keine vorhanden ist.

Kretschmann will "mit Maß und Besonnenheit" agieren

Kretschmann hat turbulente Tage hinter sich, in denen er dann doch das eine oder andere gesagt hat. Zum Beispiel, dass es besser sei, in Zukunft weniger Autos zu verkaufen als mehr. Und dass er es für richtig halte, auch in Baden-Württemberg ergebnisoffen nach einem Standort für ein Atomendlager zu suchen. Das war für einen künftigen Ministerpräsidenten des Landes schon ziemlich viel gesagt.

Wer es nicht gut meinte mit ihm und seinen Grünen, der könnte polemisieren, die neue Landesregierung werde zwar das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 nicht bauen, dafür aber den Atommüll ins Land holen. Was die Autos angeht, hat Kretschmanns Verhandlungspartner Nils Schmid schon mal dagegen gehalten. Die Sozialdemokraten hätten "Benzin im Blut", versicherte Schmid, dem man eine solche flotte Formulierung gar nicht zugetraut hätte.

Das Titelbild des Koalitionsvertrags zeigt die Umrisse Baden-Württembergs vor grün-rotem Hintergrund. Kretschmann beginnt die Vorstellung des mehr als 80 Seiten umfassenden Papiers mit den Worten, die Bürger hätten am 27. März den Politikwechsel gewählt. "Wir werden diesen Auftrag annehmen und kraftvoll gestalten", wenn auch "mit Maß und Besonnenheit."

Machtachse der künftigen Landesregierung gilt als intakt

Die künftige Landesregierung werde auf Kontinuität achten, "aber dort, wo es notwendig ist, werden wir verbessern". Mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr Bürgerbeteiligung wolle man anstreben, dazu das Land in eine Zukunftswerkstatt für die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie verwandeln. Und dies alles bei soliden Staatsfinanzen.

Die Koalition blickt einer ungewissen Zukunft entgegen

Nils Schmid knetet die Hände und zitiert den sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: "Wer nicht verändern will, der wird auch das verlieren, was er bewahren möchte." Der 37-jährige Hoffnungsträger der SPD glaubt, dass die Art und Weise, in der seine Partei und die Grünen "in den vergangenen Wochen miteinander umgegangen sind, ein Fundament für die nächsten Jahre" begründet habe.

Tatsächlich gilt die zentrale Machtachse der künftigen Landesregierung - Kretschmann und Schmid - als intakt. Dennoch musste während der Koalitionsverhandlungen, so berichtet ein Grünen-Unterhändler, manch "Gefrierpunkt" überwunden werden. Nicht nur beim Dauerkonflikt um Stuttgart 21, auch bei Themen wie dem Straßenverkehr. Über den SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel sagt einer aus den Reihen der Grünen: "Ich hatte an einer Stelle das Gefühl, dass er die Koalition torpedieren will." Grundsätzlich und aufs Scheitern hin? "Ja, grundsätzlich."

Verkehr erhält eigenes Regierungsressort

Ein anderer Grünen-Politiker sagt: "Die SPD muss von ihrem Adrenalin-Hype herunterkommen." Trotz ihres historisch schlechten Wahlergebnisses sehe sich die SPD als die bessere Regierungspartei. Diese Einschätzung der sozialdemokratischen Gemütslage ist nicht ganz falsch. Die SPD im Südwesten versteht sich trotz magerer Wahlergebnisse immer noch als Volkspartei, die das Große und Ganze im Augen behält - inklusive Ausbau der Infrastruktur und Verteidigung der industriellen Basis des Landes. So hält Fraktionschef Schmiedel der Forderung Kretschmann nach weniger Autos entgegen: "Was wir dafür tun können, die Produktionen auszuweiten, werden wir tun." Der Albstädter SPD-Landtagsabgeordnete Hans-Martin Haller ließ die Grünen wissen: "Wir sind die bessere CDU."

Schließlich ist alles gesagt, was zu sagen ist. Sogar den Zuschnitt des Kabinetts haben Kretschmann und Schmid verraten - woran sich sofort Spekulationen anschließen. Der Verkehr wird - wie zuletzt während der großen Koalition 1992 bis 1996 - zu einem eigenständigen Ressort aufgewertet und geht an die Grünen. "Irgendwann muss man auch Kompromisse eingehen", sagt SPD-Chef Schmid dazu.

Aber bedeutet dies nicht das Ende von Stuttgart 21? "Wir glauben, dass die Bahn weiter baut und dass die Bevölkerung in Baden-Württemberg für das Projekt zu gewinnen ist." Zum Ausgleich erhält die SPD in Person ihres künftigen Vizeministerpräsidenten ein Doppelministerium für Finanzen und Wirtschaft. Das hat den Vorteil, dass Schmid nicht nur als Finanzminister auf Sparsamkeit achten muss, sondern unter dem Hut des Wirtschaftsministers auch das eine oder andere Mal Geld spendieren darf, zum Beispiel für den Wohnungsbau..

Am Ende gibt es ein Gruppenfoto, auf dem die beiden Verhandlungsführer mit ihren Delegationen im Hintergrund zu sehen ist. Wieder stellt sich Beifall ein, wenn auch gedämpft. Kretschmann und Schmid lassen alle Vorsicht fallen und lächeln breit und mit blitzenden Zähnen einer allerdings ungewissen Zukunft entgegen.