Die Krise im Handel trifft Stuttgarts City an erster Stelle. IHK-Präsidentin Marjoke Breuning warnt erneut vor einer „Verödung“ der Innenstadt und sagt: „Profitieren können aber kleinere Städte und Randlagen.“ Zum Beispiel Städte im Rems-Murr-Kreis.

Stuttgart/Fellbach - Nicht erst seit dem aktuellen Lockdown stellt sich die Frage: Wie verkraftet der stationäre Handel das Ruhen der Geschäfte bis mindestens zum 10. Januar? Und was wird aus der Stuttgarter Innenstadt, die zuletzt kein Magnet für Besucher und Kunden aus der Region mehr war. Denn die Attraktivität hat in den vergangenen Jahren nicht zugenommen. Die schlechte Erreichbarkeit, die ÖPNV-Preise oder das teure Parken sind ein paar Punkte, warum Kunden aus der Region und dem Umland die City zunehmend mieden.

 

Mit einer Zentralitätskennziffer von etwa 120 liegt Stuttgart auf dem vorletzten Platz unter den zehn Kommunen in der Region mit der höchsten Zentralität. Die Landeshauptstadt hat zwar aufgrund ihrer Größe in absoluten Zahlen die größte einzelhandelsrelevante Kaufkraft und den größten Einzelhandelsumsatz, aber relativ gesehen schlagen sich einige Mittelstädte in der Region besser, wenn es darum geht, pro Einwohner zusätzliche Kaufkraft anzuziehen.

In dieser Betrachtung liegt der Rems-Murr-Kreis im Ranking der einzelhandelsrelevanten Kaufkraft mit 3245 Millionen Euro im Jahr 2019 zwar hinter Spitzenreiter Stuttgart (5034), Ludwigsburg (4256) und Esslingen (4170), aber vor Böblingen (3120) und Göppingen (1868). Auch in der Top-Ten-Liste der Städte spielen Fellbach (Platz 7/400 Millionen Euro), Backnang (8/383) und Waiblingen (9/376) eine wichtige Rolle.

City-Handel verliert Leitfunktion

Angesichts der aktuellen Lage sieht die Industrie- und Handelskammer eine deutliche Verschiebung weg vom Zentrum hin an die Ränder. „Unsere Innenstädte leiden bereits seit der Pandemie unter einem Erosionsprozess, da immer mehr Kaufkraft in den Onlinehandel fließt. Die Umsätze auf den Verkaufsflächen nehmen ab, aber die Kosten bleiben hoch – selbst die Mieten reagieren immer erst mit einem Zeitverzug“, sagt der IHK-Handels-Referatsleiter Martin Eisenmann. „Als im Frühjahr die meisten Geschäfte schließen mussten, hat sich diese Abwanderung noch dramatisch verstärkt. Nur ein Teil wird wieder in die Innenstädte zurückkehren, selbst wenn Corona Geschichte ist.“ Sein Fazit: Es könnte sein, dass der Handel seine uneingeschränkte Leitfunktion in der City verliert.

Die IHK-Präsidentin Marjoke Breuning bestätigt diese Thesen. Und sie gibt eine Einschätzung, wer aus dieser Krise der zentralen Innenstadt neben den Online-Händlern als Gewinner hervorgehen könnte: „Die Innenstädte – egal wo – leiden außerordentlich unter den Auswirkungen von Corona. Hier droht eine Verödung. Profitieren können aber kleinere Städte und Randlagen, während die Großstädte deutlich stärkere Frequenzverluste hinnehmen müssen.“ In einem Fall lässt sich die nachlassende Attraktivität der Stuttgarter City gut nachvollziehen: Der Möbel- und Accessoires-Händler Ascawo kehrt Stuttgart und dem Standort Hirschstraße 24 den Rücken. Dort beklagte der Inhaber oft, dass ihm die Stuttgarter Verwaltung im Sommer 2019 verweigerte, über die Hirschstraße anliefern zu lassen. Stattdessen, so das Ordnungsamt, solle er die Anlieferung über eine 15 Meter lange Ladezone „um die Ecke in der Straße Neue Brücke, entlang des benachbarten Eckgebäudes Hirschstraße 22“ abwickeln. In der Praxis ist diese Ladezone jedoch oft zugeparkt. Was den Ascawo-Inhaber dabei am meisten ärgerte: Der benachbarte Shop des Online-Riesen Zalando bekam eine Ausnahmegenehmigung.

Bürokratie vertreibt Händler

Inzwischen, so eine Ascawo-Mitarbeiterin, dürfe man zwar nach langem hin und her die Hirschstraße zum Be- und Entladen benutzen, allerdings gegen Gebühr. Für Kunden, die etwa Möbel kauften, sei dies weiterhin tabu. All dies und der nachlassende Charme der City samt sinkender Passantenfrequenzen hat den Händler offenbar dazu veranlasst, Stuttgart den Rücken zu kehren.

Über seinem Laden prangt ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir ziehen um nach Fellbach.“ Dort in der Schorndorfer Straße habe man bereits ein Möbellager, so die Ascawo-Mitarbeiterin, und dort könnten Kunden problemlos ein- und ausladen. Auch die Mietpreise dürften einen Bruchteil von dem ausmachen, was in Stuttgarter 1A- oder B-Lagen immer noch verlangt werden. Michael Reink vom Handelsverband Deutschland weiß: „Angesichts schrumpfender Marktanteile des stationären Handels werden wir erleben, dass immer weniger Händler in der Lage sind, die hohen Innenstadt-Mieten zu bezahlen.“ Auch hier haben kleinere und Kreisstädte deutliche Vorteile gegenüber der Metropole.

Auch David Fais, stellvertretender Leiter der IHK-Bezirkskammer Rems-Murr, sieht für die Städte im Rems-Murr-Kreis in der Zukunft durchaus „große Chancen“. „Denn die Kaufkraft, die Infrastruktur und das Potenzial sind da“, sagt Fais. Er will aber den Händlern und Städten wie Fellbach, Backnang und Waiblingen keinen Blankoscheck ausstellen. Voraussetzung für blühende Handelslandschaften sei, dass alle ihre Hausaufgaben machten. Die Kommunen ebenso wie die Einzelhändler. Und in diesem Fall sollten die Händler ausnahmsweise nicht einzeln handeln: „In diesen Zeiten ist der Schulterschluss wichtiger denn je. Nur gemeinsam können sie das Einkaufserlebnis und den Service so gestalten, dass der Kunde am Ende auch im Laden landet.“